Der Bibliothekar als Gatekeeper der Wissenschaft
Jahrhundertelang waren Umfang und Qualität der Sammlung das Kriterium für den Rang einer wissenschaftlichen Bibliothek. Der »Bestandsaufbau« galt als wichtigste Aufgabe des Bibliothekars. Die Herausforderung bestand darin, aus einer unendlichen Fülle von Publikationen eine auf den Zweck der Institution bezogene Auswahl zu treffen und diese in einen größeren Ordnungszusammenhang zu stellen. Der Bibliothekar musste zwar den aktuellen Bedarf der Nutzer im Auge haben, aber auch einen späteren.
De facto war der Bibliothekar Gatekeeper der Wissenschaft: Was er nicht erwarb, drohte als Information oder Forschungsgegenstand auszufallen.
Dieser Auftrag wird nun im Zeitalter der elektronischen Verfügbarkeit von Publikationen von zwei Seiten in Frage gestellt: Die Wissenschaftler wollen zielgenauer und schneller als bisher mit der Information versorgt werden, die sie für ihre Forschung brauchen. Und den Finanzpolitikern erscheint die Vorratshaltung für einen ungewissen Bedarf der Zukunft als Geldverschwendung.
Eine klare Abkehr vom alten Paradigma stellt die Umwandlung der Sondersammelgebiete der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Fachinformationsdienste für die Wissenschaft dar. Zwar betonen die Vertreter der Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft immer wieder, dass es ihnen bloß um eine Korrektur ihrer Förderpolitik gehe und eine grundsätzliche Stellungnahme zum vorsorgenden Bestandsaufbau der Bibliotheken damit nicht verbunden sei.
Aber fest steht: Der Aufbau einer umfassenden Sammlung im Sinne eines Reservoirs wird von der DFG nicht mehr gefördert.
Die Hoffnung, das Erwerbungsgeschäft von all den vagen und teuren Annahmen eines vorsorgenden Bestandsaufbaus zu befreien, beruht auf dem Potential elektronischer Publikationen: Sie können im Gegensatz zu den Printmedien im Prinzip just in time bereitgestellt werden. E-only, also die Vorlage nur in elektronischer Form, ist die Basis für schnelle Literaturinformation und Bereitstellung durch die neuen Fachinformationsdienste.
In welchen Fächern ist eine solche E-only-Politik vorstellbar? Am ehesten wohl da, wo Forschungsergebnisse auf der Basis oder in Konkurrenz zu vergleichbaren anderen Forschungen zustande kommen. In den experimentierenden, mit Simulationen arbeitenden und beobachtenden Forschungsformen (den meisten Natur- und Sozialwissenschaften) kommt es auf höchste Geschwindigkeit und Passgenauigkeit der Information an.
Die Forschungsergebnisse liegen fast durchgängig digital vor. Sie können von den Bibliotheken zielgenau geliefert werden. Doch hat dies seine Tücken.
Zunächst: Die Bibliotheken stellen der Wissenschaft kein stabiles Angebot bereit. Überkomplexe vertragsrechtliche Probleme und kaum noch bezahlbare Angebote der Verlage führen zu erheblichen Defiziten. Eigentlich müssten Bibliotheken das Eigentumsrecht an den elektronischen Publikationen erwerben können. Sie können sie aber meist bloß befristet lizenzieren und daher auch nicht vertrauenswürdig archivieren. Die Wissenschaft kann sie nicht umfassend bearbeiten und verlinken. Aber selbst wenn heute die Lieferung just in time gelingt und bezahlt werden kann, weiß man zugleich: not for long.
Sodann: Die Bibliotheken stellen der Wissenschaft kein ausreichend vielfältiges Angebot bereit. Der Zusammenschluss von Bibliotheken zu Einkaufskonsortien hat einen hohen Konformitätsdruck zur Folge. Für Monographien- und Zeitschriftenpakete immer derselben großen Verlage werden jedes Jahr größere Anteile der Budgets in Lizenzverträgen festgelegt. Das ist häufig verlorenes Geld ohne langfristigen Nutzen, weil die Publikationen gar nicht alle gebraucht werden und schnell wieder neu bezahlt werden müssen. Das Resultat des Online-Angebots der wissenschaftlichen Bibliotheken ist, dass die Produkte der kleineren Verlage oder des Grauen Literaturmarkts in den Bibliotheken immer seltener vorkommen. Just in time geliefert, ja, aber full of gaps.
Bibliotheken, Verlage und Buchhandel haben noch eine Menge Arbeit vor sich, um neue faire und finanzierbare Formen des Zusammenwirkens zu entwickeln. Für die meisten Natur-und Sozialwissenschaften bedeutet der Befund, dass sie mit einer E-only-Politik, wie sie bisher praktiziert wird, nicht gut bedient sind. Erst recht gilt dies für die hermeneutisch-interpretierenden, begrifflich-theoretischen und gestaltenden Forschungsformen, also die Geistes- und Kulturwissenschaften. Eine E-only-Politik schlösse die Mehrzahl von Publikationen aus. Denn wissenschaftliche Publikationen oder relevante Primärtexte (z.B. in Literatur, Philosophie oder Musik) werden noch lange auf Papier erscheinen. Von den wissenschaftlich relevanten Zeitschriften liegt nur ein Drittel auch in einer digitalen Parallelversion vor.
Fachinformationsdienste auf der Basis von E-only sind auch aus anderen Gründen zu kurz gedacht. Zunächst: Die Auswahlmöglichkeit aus einem größeren Reservoir ist prinzipiell hilfreicher für das kreative Potential der Forschung als Erwerbungsakte, die stromlinienförmig auf ein konkretes Vorhaben zugeschnitten sind. Das gilt für alle Wissenschaften gleichermaßen. Zum anderen haben Sammlungen gegenüber Einzelobjekten einen epistemologischen Mehrwert: Sammlungen stellen Einzelobjekte in einen Kontext, geben unter anderem Aufschluss über die Möglichkeiten der Epoche, in der sie entstanden sind. Sie gehören systematisch zur Forschung. Was aber nicht gekauft wird, ist künftig auch nicht vorhanden, darauf hatte jüngst Martin Schulze Wessel hingewiesen.
Es gibt für forschungsorientierte Bibliotheken keinerlei Grund, ihren Sammelauftrag in Frage zu stellen. Dieser hängt selbstverständlich nicht an Printmedien.
Das Erwerbungskonzept wird differenzierter ausfallen als früher und auch digitale Objekte umfassen. Der Medienmix in den Bibliotheken ist immer vielfältiger geworden: Neben gedruckten Verlagspublikationen sind E-Books, E-Journals, Datenbanken, Open-Access-Repositorien mit allen Zwischenformen, selbstpublizierte Titel und medial entgrenzte Inhalte jenseits des klassischen Publikationsbegriffs zu berücksichtigen.
Es gibt für forschungsorientierte Bibliotheken aber alle guten Gründe, den Sammelauftrag auch künftig arbeitsteilig wahrzunehmen. Die nichtanalogen Medien verlangen keinen bestimmten physischen Standort mehr. In Deutschland haben verschiedene Universitäts- und Staatsbibliotheken immer schon verteilte Ressourcen aufgebaut, so schon in Preußen seit 1909. Von 1949 an hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Sondersammelgebietsprogramm finanziell unterstützt und koordiniert. Nachdem dieses System aufgegeben ist, müsste im föderalen Staat eine neue ordnende Hand Schwerpunkte definieren, damit der Spitzenbedarf der Forschung von den Bibliotheken arbeitsteilig gedeckt werden kann.
Ein neuformuliertes Sondersammelgebietsprogramm wäre das geeignete Instrument, um diese Herausforderung zu bewältigen.
Forschungsinformation ist keineswegs »immer schon da«. Vielmehr muss es Institutionen geben, die sie selektieren, aufbereiten, vertrauenswürdig archivieren, finanzieren und vermitteln. In der Terminologie von früher heißt das: eine Sammlung aufbauen. Das war die Domäne der wissenschaftlichen Bibliotheken. Ihr chaotisches Nebeneinander ohne Arbeitsteilung im Sammelauftrag wäre die eigentliche Geldverschwendung.
Zuerst erschienen unter selbigem Titel am 2.9.2015 im Feuilleton (»Forschung und Lehre«) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.