Die Präsentation „Land. Fluss. Kentmanus.“ im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zeigt Abbildungen der kostbare Handschriftensammlung Codex Kentmanus. Foto: © Klassik Stiftung Weimar

Codex Kentmanus: Zeitreise in die Natur des 16. Jahrhunderts

von Katja Lorenz

Die kostbare Buchhandschrift Codex Kentmanus in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek liefert wertvolle Hinweise über die Artenvielfalt in der Elbe und botanische Studien in der Frühen Neuzeit. Wie erforschten gelehrte Ärzte damals die Natur?

Zu den größten Schätzen der Handschriftensammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gehört der Codex Kentmanus aus dem 16. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von mehreren naturkundlichen Manuskripten, die zu einem Buch zusammengebunden wurden. Buchhandschriften werden auch als Kodex (lateinisch: Codex) bezeichnet. Der Name „Kentmanus“ geht auf die Autoren der Manuskripte, zwei in Sachsen praktizierende Ärzte, zurück. Theophil Kentmann ließ 1583 die handschriftlichen Aufzeichnungen seines Vaters Johannes mit den eigenen zu einem repräsentativen Band zusammenbinden. Unter der Direktion von Johann Wolfgang von Goethe wurde der Band 1810 von einem unbekannten Vorbesitzer für die Weimarer Bibliothek angekauft. Es gibt Hinweise darauf, dass er früher zur Sammlung von Christian Wilhelm Büttner gehörte, die sich aber nicht sicher belegen lassen. Im 20. Jahrhundert erhielt das gebundene Manuskriptkonvolut den Namen Codex Kentmanus.

Mit seinen 450 ganzseitigen Darstellungen von Pflanzen und Tieren zählt der Codex Kentmanus zu den umfangreichsten naturkundlichen Bildersammlungen, die sich aus dem 16. Jahrhundert erhalten haben. Die Illustrationen wurden sowohl von Künstlern als auch von den Autoren selbst angefertigt.

Der Codex Kentmanus liefert wertvolle Informationen über die um 1550 in der sächsischen Elbe lebenden Fische, wie hier die Brasse, und über den damaligen Zustand des Gewässers.

Der Codex Kentmanus liefert wertvolle Informationen über die um 1550 in der sächsischen Elbe lebenden Fische, wie hier die Brasse, und über den damaligen Zustand des Gewässers.

Eine Besonderheit ist die Zeichnung einer Tulpe mit gelben Blütenblättern, die als die älteste bekannte Tulpendarstellung gilt. Unter den weiteren ca. 200 Pflanzenzeichnungen sind außerdem viele Arten vertreten, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Mitteleuropa unbekannt waren. Es ist der wissenschaftlichen Neugier Johannes Kentmanns und einer Studienreise nach Italien zu verdanken, dass sie nördlich der Alpen einem breiteren Gelehrtenkreis bekannt wurden.

Die älteste bekannte Tulpendarstellung (fol. 16v) ist im Codex Kentmanus zu finden.

Die älteste bekannte Tulpendarstellung (fol. 16v) ist im Codex Kentmanus zu finden.

Ein besonders wertvolles Manuskript im Kodex ist die Handzeichnung des Flussverlaufs der Elbe von Nymburk bis zur Mündung bei Cuxhaven-Ritzebüttel. Sie wurde von Johannes Kentmann angefertigt, erstreckt sich über fünf Seiten und wird zwischen 1540 und 1566 datiert. Kentmann verzeichnete entlang der Elbe 79 Ortsnamen, 22 Einmündungen von Nebenflüssen, 29 Zollstationen, sieben Brücken und zehn Fähren. Es lässt sich vermuten, dass Kentmann, der selbst immer wieder an der Elbe wohnte, neben seinen eigenen Recherchen gezielt Schiffer und Händler befragt hat, die die Elbe als Verkehrsweg nutzten, um zu diesem Wissen zu gelangen.

Verlauf der Elbe zwischen Königstein und Magdeburg (fol. 143v | 144r).

Verlauf der Elbe zwischen Königstein und Magdeburg (fol. 143v | 144r).

Den Wissens- und Erfahrungsschatz einer anderen Berufsgruppe, nämlich der Elbfischer, nutzte Kentmann für ein zweites außergewöhnliches Werk: die früheste bekannte Fischfauna eines deutschen Gewässers. Sie findet sich im Anhang einer 1549 fertiggestellten Bilderhandschrift über Tiere, die im Meer und im Süßwasser leben. Im Verzeichnis „Piscium Albis Fluvii Delineatio“ (übersetzt: Darstellung der Fische des Flusses Elbe) führt Kentmann 39 Fischarten sowie den Flusskrebs und die Malermuschel auf, die meisten davon mit Abbildung.

Elbfische: Quappe | Elritze, Kleiner Stichling, Schleie (fol. 197v | fol. 198r).

Elbfische: Quappe | Elritze, Kleiner Stichling, Schleie (fol. 197v | fol. 198r).

Das Verzeichnis liefert heute wertvolle Informationen über die Artenvielfalt der um 1550 im sächsischen Elblauf lebenden Fische sowie über den damaligen Zustand des Gewässers. Im Zeitalter der Industrialisierung und durch die Kanalisierung der Elbe seit dem 19. Jahrhundert änderten sich die Lebensbedingungen der Tiere. Mehrere Arten verschwanden aus der Elbe, wie ein 1978 veröffentlichter Abgleich des Fischbestandes um Meißen mit dem Verzeichnis Kentmanns zeigte. Durch Maßnahmen des Naturschutzes sind inzwischen einige dieser Fischarten wieder in der Elbe heimisch.

Erkunden Sie hier unsere digitale Ausstellung zum Codex Kentmanus

Eine weitere Besonderheit des Codex Kentmanus sind schließlich die in den Manuskripten enthaltenen Texte mit zahlreichen Kommentaren. Sie machen die Buchhandschrift zu einem einzigartigen Zeugnis der Gelehrtenkultur im 16. Jahrhundert. Denn die Kentmanns haben nicht nur eigene Texte festgehalten, sondern zitieren und verweisen auch auf Forscherkollegen ihrer Zeit. Gleichzeitig gibt es eindeutige Hinweise, dass die Manuskripte unter den Gelehrten ausgetauscht wurden. So ergänzte der bekannte Zürcher Naturforscher Conrad Gessner zahlreiche Pflanzendarstellungen durch Hinzufügen zeichnerischer Details oder des Pflanzennamens. Die entsprechenden Seiten sind in einem Verzeichnis angegeben. Der Codex Kentmanus steht somit als Beispiel für neue Betrachtungsweisen und Methoden, mit denen die Gelehrten im 16. Jahrhundert das Wissen über die sie umgebende Natur zu sammeln und zu systematisieren versuchten und dafür, wie sie sich untereinander vernetzten.

Naturselbstdrucke im Codex Kentmanus: Hopfen | Geranienarten (fol. 263v | fol. 264r).

Naturselbstdrucke im Codex Kentmanus: Hopfen | Geranienarten (fol. 263v | fol. 264r).

Zwei gelehrte Gedichte eines befreundeten Kollegen, die eine neue Illustrationstechnik zur Darstellung von Pflanzen preisen, sind einem innovativen Werk von Theophil Kentmann von 1583 vorangestellt: Im Verfahren des Naturselbstdrucks, das er wahrscheinlich in Italien kennenlernte, dokumentierte er mehr als 150 einheimische Heilpflanzen.

Pflanzenzeichnungen im Codex Kentmanus: Felsen-Steinkresse sowie Blätter und Frucht des wenig bekannten Muskatnussbaums mit Notiz von Gessner (fol. 103v | fol. 104r).

Pflanzenzeichnungen im Codex Kentmanus: Felsen-Steinkresse sowie Blätter und Frucht des wenig bekannten Muskatnussbaums mit Notiz von Gessner (fol. 103v | fol. 104r).

Die Abbildungen dienten als Bestimmungshilfe für das Sammeln der Kräuter, wobei die Technik des Naturselbstdrucks viele Vorteile bot. Bei diesem Druckverfahren werden Pflanzenteile mit einer ölhaltigen Ruß- oder Kohlefarbe eingefärbt und direkt auf dem Papier abgedruckt. Die an der Erforschung der Natur interessierten Gelehrten konnten so unabhängig von Formschneidern und Kupferstechern arbeiten. Die Illustrationstechnik des Naturselbstdrucks ermöglichte, weit vor Erfindung der Fotografie, eine naturgetreue und einprägsame Darstellung der Form, Struktur und Größe des Pflanzenblatts. Die so erzeugten Illustrationen faszinieren noch heute, wenn man daran denkt, dass es sich um Abbilder von echten Pflanzen handelt, deren Blätter und Stängel vor genau 438 Jahren gepflückt wurden.

Weiterführend: 

Zum Themenjahr „Neue Natur“ der Klassik Stiftung Weimar ist die  Präsentation “Land. Fluss. Kentmanus.” im Studienzentrum zu sehen.

Digital: Den Codex Kentmanus  finden Sie hier in den Digitalen Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

 

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