Verlegung des Stolpersteins für Else Fretzdorff am 16. August 2021, © Martin Pücker, Lernort Weimar e.V.

Stolperstein für die Bauhaus-Schülerin Else Fretzdorff in Weimar

von Anke Blümm und Marc Steinhäuser

Viel ist es nicht, was über das Leben von Else Fretzdorff herauszufinden ist. Ein paar Eckdaten, Orte, an denen sie sich aufhielt, einige Wendepunkte ihres Lebens. Nichts über ihr Wesen, nichts über ihre Träume, nichts darüber, welches Leben sie gern geführt hätte, hätte sie selbst darüber bestimmen können.

Sogar über ihrem Tod schwebt ein bürokratisches Kürzel, das der Ungeheuerlichkeit ihres gewaltsamen Sterbens noch den Stempel des Unpersönlichen aufdrückt: T4. Die Abkürzung für „Tiergartenstraße 4“, den Standort der sogenannten Zentraldienststelle, steht für die systematische Ermordung von mehr als 70 000 psychisch kranken und geistig sowie körperlich behinderten Menschen durch die Nationalsozialisten. Else Fretzdorff war eine von ihnen.

In Weimar, wo sich ihr Schicksal für einen kurzen Moment zum Guten zu wenden schien, erinnert nun ein Stolperstein an sie.

Feierliche Stolpersteinverlegung für Else Fretzdorff mit Musikerinnen vom Yiddish Summer Weimar, Foto: Marius Hoppe, © Klassik Stiftung Weimar

Wie und warum Else Fretzdorff nach Weimar kam, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Sie wurde am 2. Januar 1877 in Zohlow bei Frankfurt/O., dem heute polnischen Sułów, als Tochter des Rittergutsbesitzers Bruno Fretzdorff geboren. 1911 verkaufte die Familie das Gut und zog nach Berlin. Elses Bruder nahm sich 1912 das Leben, der Vater starb 1914. Ihre Mutter Gertrud war seit Jahren psychisch krank und auch Else hielt sich bereits in ihrer Jugend mehrfach in Pflegeanstalten auf.

1918 zog sie nach Weimar. Mit den Handarbeitskenntnissen, die sie in den Wintermonaten auf dem väterlichen Gut erworben hatte, konnte sie bereits ab Oktober Kurse an der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule besuchen. Im September 1919 meldete sie sich in der „Weberei und Stickereiabteilung“ bei Helene Börner am neu gegründeten Staatlichen Bauhaus an. Obwohl sie schon über vierzig war und weder offizielle Zeugnisse noch eine adäquate Vorbildung vorweisen konnte, befürwortete Walter Gropius Fretzdorffs Aufnahme. Es müssen ihre eingereichten Handarbeitsstücke gewesen sein, die ihre Lehrer von den Fähigkeiten der neuen Schülerin überzeugt hatten. Damit machte der erste Bauhaus-Direktor ernst mit dem von ihm im April 1919 verfassten Bauhaus-Manifest, in dem es unter anderem heißt:

„Aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichend erachtet wird, und soweit es der Raum zuläßt.“

In den offiziellen Listen der Webereiabteilung ist Else Fretzdorff ab Herbst 1919 als Schülerin verzeichnet. Warum sie sich bereits am 1. April 1920 wieder abmeldete, ist unklar. Trotz ihres Abgangs von der Schule blieb Fretzdorff noch einige Jahre in Weimar ansässig. Das Weimarer Adressbuch 1921/22 nennt sie als Kontoristin, eine Bürokraft, wohnhaft in der Amalienstraße 2. Dort befand sich seit 1904 das Martha-Marien-Heim, ein von der evangelischen Kirche Thüringen unterstütztes Frauen-Wohnheim, das alleinstehenden Frauen längerfristig Obdach bot. Einige Jahre später zog Else Fretzdorff in den dritten Stock des angrenzenden Wohnhauses des Heims in der Luisenstraße, heute Humboldtstraße 5.

Ihr gesundheitlicher Zustand muss sich weiter verschlechtert haben. Die im Jahr 1928 beginnende Krankenakte, die sich im Bundesarchiv Berlin erhalten hat, beschreibt eine Situation, in der sie im verwirrten Zustand auf dem Bahnhof Kreiensen aufgegriffen und mit der Diagnose Schizophrenie in die Heilanstalt Königslutter eingewiesen wurde. 1929 wurde sie von Königslutter in die Landesheilanstalt Blankenhain in Thüringen verlegt, wo sie mehr als elf Jahre lang lebte.

Notizen in ihrer Krankenakte belegen Zustände zwischen Ruhe und Erregung, denen höchstens medikamentös begegnet wurde. Nahe Angehörige hatte sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich keine mehr.

Die letzten beiden Akteneinträge stammen aus dem Jahr 1940: Am 20. September wurde sie in die Landesanstalt Zschadraß in Sachsen gebracht. Von da aus kam sie am 27. November in die Tötungsanstalt Pirna/Sonnenstein, wo sie sehr wahrscheinlich schon am Tag ihres Transports umgebracht wurde.

Else Fretzdorff war schwer krank. Heute hätte sie würdig therapeutisch und medikamentös betreut werden können. Doch die menschenverachtende Kategorisierung als „minderwertig“ und „erbbiologisch belastet“ durch die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Ideologie besiegelten 1940 ihre Ermordung als vermeintlich “unwertes Leben”.

Else Fretzdorffs tragische und von zahlreichen blinden Flecken durchzogene Geschichte steht gleichermaßen singulär wie auch stellvertretend für die Schicksale vieler früher Bauhaus-Frauen. Traditionelle Rollenvorstellungen und die oftmals schwierigen Lebensverhältnisse alleinstehender Frauen führten dazu, dass sie ihr künstlerisches Talent nur selten frei entfalten konnten, ihr Werk nicht erhalten ist und ihre Lebenswege kaum Spuren hinterlassen haben.

Insbesondere die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 wirkte sich auf weibliche Bauhaus-Angehörige aus. Während einige konform mit dem neuen System gingen, sogar in die NSDAP eintraten, fanden andere, verfolgt vom NS-Regime, einen frühen Tod, wurden im Exil Opfer stalinistischer Säuberungen, starben aufgrund von Krankheiten oder in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs.

Das Ausstellungsprojekt „Vergessene Bauhaus-Frauen“ widmet sich der Erforschung dieser Schicksale. Ab 2. Oktober 2021 werden im Bauhaus-Museum in einer Kooperation der Universität Erfurt mit der Klassik Stiftung Weimar mehr als 30 Künstlerinnen vorgestellt. Die Ausstellung wird die Vielfalt der weiblichen künstlerischen Talente zeigen, die sich über fast alle Werkstätten des Bauhauses erstreckten. Dazu erscheint ein Katalog, der an die gewaltsam unterbrochenen Biografien erinnert – so wie jetzt der Stolperstein für Else Fretzdorff in der Humboldtstraße 5.

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Die Biografie hinter dem Objekt

Ein Kommentar

  • Ein beeindruckendes Schicksal und ein würdiger Beitrag dazu hier im Blog der Stiftung. Danke!

    P. Dähne -