War Giuseppe Bossi ein Fälscher?
Das Kopieren nach berühmten Vorbildern stellte im 19. Jahrhundert selbst nach der künstlerischen Studienzeit an den Akademien eine wichtige Praxis für die Künstler dar, anhand derer sie ihre Fähigkeiten weiter vertieften und zugleich neue Impulse für ihre Werke erhielten.
Giuseppe Bossi entwickelte bereits während seines Studiums an der Mailänder Brera-Kunstakademie sein Talent als Kopist. In den Jahren 1795 bis 1798 ermöglichte ihm ein Stipendium, in Rom zu leben. Seine Fertigkeit als Kopist vervollkommnete er, indem er Nachahmungen von antiken Skulpturen nach Vorlagekopien im Museum Pio Clementino und nach Werken Michelangelo Buonarrotis und Raffaello Sanzios in den Vatikanischen Museen anfertigte.
Zu seiner Ausbildung gehörten auch Naturstudien, insbesondere das Sezieren von Leichen, wie es bereits Leonardo da Vinci dreihundert Jahre vor ihm gemacht hatte.
Beim Kopieren profilierte sich Bossi europaweit: Er konnte sich den Duktus, also die charakteristische Art zu zeichnen, von anderen Künstlern aneignen und getreu wiedergeben.
Das macht seine Nachahmungen in vielen Fällen schwer unterscheidbar von den Vorlagen. Die Absicht einer mimetischen Wiedergabe der Originale wurde von Bossi bei seinen Kopien stets auch durch die Verwendung derselben Technik und desselben Materials verfolgt.
Es überrascht daher nicht, dass viele seiner Kopien in der Forschung lange für eigenhändige Werke von Leonardo oder Raffael gehalten wurden. Eklatante Beispiele sind das »Selbstporträt Leonardos« in der Biblioteca Reale in Turin (Abb. 1) oder die sogenannten »Raffael-Skizzenbücher« in der Galleria dell‘Accademia in Venedig.
Beide wurden erst durch die Forschungen von Hans Ost als von Bossi stammend erkannt. Hans Ost konnte schlüssig nachweisen, dass zahlreiche eigenhändige Zeichnungen Giuseppe Bossis aus seinem Nachlass als Werke von Meistern der Hochrenaissance wie Leonardo da Vinci und Raffael in Museen gelangten.
Man mag hier gewisse Analogien zur Antiken-Fälschung des »Jupiter und Ganymed« von Anton Raphael Mengs sehen, der die »Kenner« auf die Probe stellen wollte. Finanzielle Absichten jedenfalls sind Giuseppe Bossi nicht nachweisbar.Er war wohl von keiner Fälschungsabsicht bewegt und sah es wahrscheinlich als persönliche Herausforderung und als Würdigung der kopierten Künstler an, deren Talent er erkannte und deren Werke er bis zur Mimesis nachahmte. Beispielsweise die von Carl August aus dem Nachlass für Weimar erstandenen Zeichnungen nach Motiven von Leonardo (Abb. 2, Abb. 3), Michelangelo (Abb. 4, Abb. 5) und Giovanni Antonio Bazzi genannt Sodoma (Abb. 6, Abb. 7) galten alle als Kopien von Giuseppe Bossi.
Aber Bossi beschränkte sich nicht auf die getreue Wiedergabe der Vorlagen. Wie geschildert, erkundete Bossi auf eine kreative Weise das Kunstverfahren des Kopierens. Er benutzte es auch als Erkenntnisprozess, womit er den Vorlagen Fragen stellte und zugleich neue Kenntnisse gewinnen wollte.
Teilweise wurde das Nachbilden von ihm als Neuinterpretation oder Neuschöpfung verstanden: Er betonte oder änderte Aspekte und Elemente der Vorlagen, die ihm wichtig waren. Manchmal intendierte er innovativ einen ästhetischen Vervollkommnungsprozess.
Bossis Auseinandersetzung mit dem Kopieren spiegelt seine unersättliche Neugier wider. Seine Kopien stellen einen raffinierten Tribut an die von ihm kopierten Vorlagen dar, die nur von einem passionierten Liebhaber der Kunst wie Bossi angefertigt werden konnten.
Die reichen Bossi-Bestände der Klassik Stiftung stehen in Mittelpunkt der Ausstellung »Von Leonardo fasziniert – Giuseppe Bossi und Goethe«. Die Werke sind vom 26. August bis 13. November im Schiller-Museum Weimar zu sehen.