Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
Goethe – Tischbein – Warhol:
Die Herausbildung einer Ikone
Seit 1885 wird im Goethe-Nationalmuseum kontinuierlich zur Rezeptionsgeschichte der Goethe-Zeit gesammelt. Lange fehlte Andy Warhols Goethe-Porträtserie. Erfreulicherweise konnte diese Lücke im vorigen Jahr geschlossen werden. Alle vier Köpfe sind nun in Weimar präsent und erweitern die Goethe-Ikonografie bis in die Moderne. Doch wie kam es zum Trio Tischbein, Goethe und Warhol?
Tischbein – Goethe
Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins monumentales Porträt »Goethe in der römischen Campagna« ist das wohl bekannteste und am meisten verbreitete Bildnis des Dichters. Es entstand um 1786/87 während Goethes erstem Aufenthalt in Italien, wo er unter Führung und Anleitung des Malers die Kunstschätze Roms studierte und sich im Zeichnen vor der Natur übte. Ihrer römischen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft setzte Tischbein mit dem ganzfigurigen Porträt des Dichters ein bleibendes Denkmal: Goethe erscheint als Reisender in einem weißen Mantel und Hut auf den Überresten antiker Kulturen ruhend in einer italienischen Landschaft. Tischbeins eindrucksvolles Bildmonument verkörperte für viele das Idealbild des klassischen Dichters und wurde im Laufe der Zeit zu einer Ikone der Goethe-Verehrung. Goethe selbst hat das Bild nie vollendet gesehen, verwahrte in seiner Sammlung jedoch eine getuschte Entwurfsskizze.
Zudem ist in Weimar eine kleinere Fassung des Bildes als aquarellierte Federzeichnung auf Papier erhalten – eine Gemeinschaftsarbeit der Künstler der römischen Wohngemeinschaft Goethes: Johann Georg Schütz, Friedrich Bury und J. H.W. Tischbein. Sie soll ebenfalls in Goethes Besitz gewesen sein. Das originale Gemälde befindet sich seit 1887 im Frankfurter Städel-Museum.
Goethe – Warhol
Andy Warhol entdeckte den »Wanderer auf dem Obelisken« eher durch Zufall für sich als Motiv. 1980 führte ihn ein Porträtauftrag des Verlegers Siegfried Unseld, den er fotografieren wollte, nach Frankfurt. Seit den 1970er Jahren nahm der amerikanische Pop-Art-Künstler vermehrt Auftragsarbeiten an, für deren Ausführung ihm eigene Fotografien dienten. Warhol besuchte mit Unseld das Städel-Museum und soll von ihm angeregt worden sein, eine Variation von Tischbeins Gemälde zu erstellen. Der »Hofmaler der 70er«, wie Kunsthistoriker Robert Rosenblum Warhol bezeichnete, nahm den Auftrag an, fotografierte das Goethe-Gemälde und schuf im darauffolgenden Jahr ein erstes großformatiges Goethe-Bild auf Leinwand.
Von einem weiteren Besuch Warhols im Städel zeugt ein bekanntes Porträt der Fotografin Barbara Klemm. Im Jahr 1982 erschien dann die vierteilige Suite der Porträt-Serigrafien »Goethe« in unterschiedlichen Farbgebungen. Die Serie wurde in 100 numerierten Sätzen zu jeweils vier Siebdrucken veröffentlicht.
Obwohl es sich um eine Auftragsarbeit handelte, schien Tischbeins monumentales Bild prädestiniert für Warhols Starporträts, die er seit den 1960er Jahren seriell in seiner »factory« anfertigte. Hierfür reproduzierte der gelernte Grafiker Pressefotos prominenter Persönlichkeiten aus Unterhaltung, Politik und Kunst mithilfe des Siebdrucks und verfremdete sie durch den Einsatz schriller Farben.
Warhol, zum Zeitpunkt des Auftrags selbst schon eine Ikone der Pop Art, transformierte Tischbeins Goethebildnis durch seine unverwechselbare künstlerische Handschrift in die Moderne. Er schenkte dem markanten Dichterkopf mit Hut die größte Aufmerksamkeit und löste ihn aus dem ursprünglichen Bildkontext des Landschaftsporträts heraus. Über der typischen Rasterung der fotografischen Vorlage und des Siebdrucks variieren die Farben innerhalb der Serie.
Die fein abgestimmte, knallige Farbpalette verstärkt die suggestive Kraft der vier Varianten des Motivs – steht man direkt vor diesen überlebensgroßen Drucken, so wird das Zusammenspiel der feintonigen Farben besonders deutlich: Goethes Kopf wirkt wie von einem Heiligenschein in leuchtenden Farben illuminiert.
Durch Hinzufügung zeichnerischer Elemente erhält das Motiv eine malerische Oberflächenstruktur – Augen, Nase und Mundpartie, Haare und Kleidung sind wie mit Kreidestrichen konturiert. Die gezeichneten Konturen hat Warhol nach eigener Aussage seinem Publikum zugestanden:
»Ich würde wirklich nach wie vor lieber Siebdrucke nur vom Gesicht machen, ohne das ganze Drumherum, aber die Leute erwarten einfach ein bisschen mehr. Das ist der Grund, warum ich all die zeichnerischen Elemente einfüge.«
Mit den Konturen überzeichnete er augenfällig den von Tischbein evozierten klassischen Habitus des Dichterfürsten und weist mit seiner unverwechselbaren Gestaltung, die sich an der Ästhetik der Konsum- und Werbewelt orientiert, über Tischbeins Stilisierung Goethes hinaus. Durch die Verfremdung vorhandener Bildvorlagen, die serielle Fertigung und die Möglichkeit der nahezu unbegrenzten Vervielfältigung des Siebdrucks stellt Warhol charakteristische Merkmale künstlerischen Schaffens wie Subjektivität und Originalität programmatisch infrage.
Mit der Überdimensionierung des Porträtausschnitts und der großflächigen, nur wenig differenzierten Gestaltungweise der Pop Art ist Goethes Kopf plakativ in Szene gesetzt. Schon Tischbein hatte eine Kopfstudie zu seinem Gemälde angefertigt. Während des Entstehungsprozesses wies er ausdrücklich auf die Heraushebung des Gesichtes hin, dem er besonders viel Aufmerksamkeit widmen wollte, wie er in einem Brief an Johann Caspar Lavater schreibt:
»[…] sein Gesicht will ich recht genau und wahr nach zeichnen. Den man kan wohl keinen glückligern und austrucksvolleren Kopf sehen.«
Mit seiner Kunst schuf Warhol erneut einen Höhepunkt in der Wirkungsgeschichte von Tischbeins Goethe-Bildnis. Mithilfe des seriellen Siebdruckverfahrens und der knallbunten Farben der Pop Art ist es ihm gelungen, Goethe ins 20. Jahrhundert zu katapultieren und ihn im Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten zu verankern. Zugleich reihte er den Dichter nahtlos ein in seine Porträtgalerie prominenter Zeitgenossen wie Marilyn Monroe, Elvis Presley oder Mao Zedong.
Warhol in Weimar
In der Dauerausstellung »Lebensfluten – Tatensturm« des Goethe-Nationalmuseums runden Warhols vier Goethe-Köpfe das Kapitel »Erinnerung« ab. Hier rahmen sie an der Schnittstelle zur Faust-Galerie den ebenso wirkungsgeschichtlich bedeutsamen literarischen Stoff Goethes und die von ihm zu seinem »Faust« entworfene Theaterskizze »Erscheinung des Erdgeistes«.
Die Präsentation lässt die unterschiedlichen Werke effektvoll miteinander in Beziehung treten: Das von gloriolen Strahlen umloderte Haupt des Erdgeistes findet seine Entsprechung in dem wie von einem Heiligenschein hinterfangenen zeitgenössischen Konterfei seines Schöpfers.
Goethe gerät im Kabinett »Erinnerung« gleichsam in eine dialogische Spiegelung der Künste und Zeitschichten: Sein Lebenswerk »Faust« als Spiegel der Zeit und die rastlose Suche nach dem Sinn des Lebens sind noch immer aktuell und werden immer wieder fruchtbar beleuchtet. Nirgends wird dies deutlicher als in diesem Raum, wo Warhols serielle Arbeiten in einem beziehungsreichen Spannungsfeld zu Goethes literarischem und zeichnerischem Werk stehen und zudem ausdrucksstarkes Beispiel für die Goetherezeption bis in die jüngere Gegenwart sind.
Die wertvolle Serigrafie-Folge »Goethe« von Andy Warhol ist der großzügigen Zustiftung von Dr. Wilhelm Winterstein zu verdanken, der den Graphischen Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar seit vielen Jahren mäzenatisch verbunden ist. Jährliche Zuwendungen ausgesuchter Zeichnungen erweitern die graphischen Bestände der Stiftung in hervorragender Weise. Dies gilt umso mehr für die Schenkung der vier eindrucksvollen Goethe-Köpfe Warhols.