Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
Zu faul zum Überleben?
Es fraß wahrscheinlich Wurzeln und Knollen, war träge und konnte weder Klettern noch Springen. Als riesiger Maulwurf wurde es beschrieben, als beinahe elefantengroßes Tier, das sich durch die Erde gräbt.
„Wie sollte man aber nun den Geist benennen, der sich im Geschlechte Bradypus offenbart? Wir möchten ihn einen Ungeist schelten, wenn man ein solches lebenslästerliches Wort brauchen dürfte; auf alle Weise jedoch ist es ein Geist der sich in seiner Haupterscheinung nicht manifestieren kann, in mehr oder weniger reinem Bezug nämlich gegen die Außenwelt“,
schrieb Goethe in den „Heften zur Morphologie“ über das Riesenfaultier.
Doch das Interesse Goethes weckte es aus einem anderen Grund: Christian Heinrich Pander und Joseph Eduard d’Alton sahen das Risenfaultier als das älteste und „merkwürdigste Thier der Urwelt“ an. Die beiden Forscher befassten sich mit fossilen Lebewesen, die im 18. Jahrhundert aus der Erde gegraben wurden; fragten nach deren Alter und wie sie sich von noch lebenden Tieren unterscheiden. Von 1821 bis 1838 erschien ihr umfangreiches Werk „Vergleichende Osteologie“, von dem Goethe mehrere Bände besaß und einige rezensierte.
Ausgangspunkt der „Vergleichende Osteologie“, der vergleichenden Knochenlehre, ist der Band über das Riesenfaultier und der Vergleich mit dessen lebenden Verwandten in Amerika. Pander und d’Alton reisten unter anderem nach Madrid, um das einzige Skelett eines Riesenfaultiers zu besichtigen. Sie rekonstruierten es neu, vor allem aber stellten sie es in die noch lebende Faultier-Gattung Bradypus. Die alte Form des Riesenfaultiers, so ihre These, hatte sich dabei in heute lebende Arten verwandelt.
Zu Beginn ihrer Beschreibung stellten Pander und d’Alton eine direkte Beziehung zwischen Knochen und Lebensweise fest:
„Da uns die vergleichende Anatomie die unmittelbare Beziehung aller Organe auf das Knochensystem zeigt, wodurch sowohl die Bewegung der Thiere, ihre Lebensweise, so wie die Art sich zu ernähren und zu vertheidigen, an feste Gesetze gebunden ist; so ist hier die Aufgabe, aus dem Scelet eines untergegangenen Geschlechts, dem keines der lebenden mehr ganz entspricht, das Thier zu characterisiren, dem es einst angehörte, und die Stelle auszumitteln, die es früher in der Reihe der Thierwelt eingenommen hat.“
Pander und d’Alton schließen aus dem Knochenbau des Riesenfaultieres auf dessen Lebensweise. Einen „colossalen Maulwurf“ könne man es nennen, „der nur mit Anstrengung seiner Kräfte die nöthige Nahrung unter der Erde aufzubringen vermöchte.“ Eine solche Rekonstruktion hat neuerdings an Plausibilität gewonnen. So werden Höhlen in Brasilien der Grabungstätigkeit von Riesenfaultieren, allerdings anderer Gattungen, zugeschrieben.
Das Fazit Panders und d’Altons jedenfalls lautet, „dass dieses Thier, wenn auch nicht das grösste, doch das plumpste, und wahrscheinlich das älteste aller Thiere ist, von welchem sich Reste bis auf uns erhalten haben; ferner, dass es sich nur langsam und schleppend fortzubewegen vermochte, und ausser seinen langen Krallen, waffenlos gegen gleich riesenhafte Raubthiere war, und seinen Aufenthalt in Höhlen, so wie seine vegetabilische Nahrung unter der Erde aufgesucht zu haben scheint“.
Durch „Vergleichung und Folgerung“ entwarfen Pander und d’Alton nicht nur Aussehen und Lebensweise. Sie stellten auch Metamorphose-Beziehungen zwischen diesem und noch lebenden Formen her. Die Verwandtschaft sei keine ideelle, sondern eine reale, das heißt genetische. Sie beruhe nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Abstammung. Zwischen fossilen und gegenwärtig lebenden Formen bestünden Abstammungsbeziehungen, die so eng seien, dass sich nicht nur die gegenwärtig lebenden Formen als Nachkommen der fossilen auffassen ließen, sondern beide sogar in dieselbe Gattung gestellt werden müssten. Die heutigen Faultiere seien echte Nachfahren der verschwundenen Megafauna.
Für Goethe waren Werke wie die „Vergleichende Osteologie“ ein Zeichen für einen beginnenden Sonnenaufgang der Naturwissenschaften, wie er am 7. Januar 1826 in einem Brief an Carl Gustav Carus und d’Alton schrieb. Von Pander, d’Alton und Goethe führte der Weg des Riesenfaultiers weiter zu Darwin. Dieser erwähnte Pander und d’Alton nicht nur als seine Vorläufer in seinem epochemachenden Buch „Origin of Species“ von 1859; er selbst fand an der Küste Patagoniens Riesenfaultier-Fossilien. Bei Darwin wurde das vermeintlich älteste Tier der Welt – erneut – zu einem zentralen Argument für etwas, was nun nicht mehr Metamorphose genannt wurde, sondern Transformation hieß oder später: Evolution.
Dieser Blogbeitrag ist eine Kurzform des Texts „Das älteste Tier der Welt“ von Thomas Schmuck aus dem Katalog zur Ausstellung „Abenteuer der Vernunft – Goethe und die Naturwissenschaften um 1800“, herausgegeben von Kristin Knebel, Gisela Maul und Thomas Schmuck, erschienen beim Sandstein Verlag.
Bis zum 16. Februar 2020 präsentieren wir erstmalig Goethes umfassende naturwissenschaftliche Sammlung. Zwischen den Diskursen der sich formierenden Naturwissenschaften um 1800 und heutigen Fragestellungen entwickelt sich ein spannungsreicher Themenparcours mit innovativen Medienstationen.
Zur Ausstellung „Abenteuer der Vernunft”