Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik · Kosmos Weimar
Goethes »Versäumnisse«
Verweigerte sich Goethe zeitgenössischen Entwicklungen? Der Weimarer Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke beschreibt, wie Goethe das Werk Franz Schuberts verpasste.
Normalerweise, so meinen wir, lassen selbstverschuldete und unverschuldete Versäumnisse sich leicht unterscheiden. Nicht so jedoch in Bezug auf unsere Zeitgenossenschaft, und schon gar nicht bei einem, der Vielen als letzter, in der europäischen Kultur gerade noch möglicher Universalist galt, dessen produktive Phantasie in unterschiedlichsten Wissensgebieten zünden konnte: Goethe. Selbst, wo er sich zeitgenössischen Entwicklungen verweigerte, war er ein intensiv mitlebender Zeitgenosse, zudem einer, dessen Format ihn zu weiter reichenden Verständnissen zu verpflichten scheint als kleinere Geister.
Dem steht gegenüber, dass Schöpfertum stets Befangenheit in eigenen Anliegen mit sich bringt und kein Genie verpflichtet ist, andere Genies zu verstehen. Nachdem »Werthers Leiden« geschrieben war, gab es den kaum noch, der sich das von der Seele schreiben musste. Immerhin gab es ihn noch so weit, dass »Tasso« notwendig wurde und er empfindlich reagierte, wenn von außen Probleme an ihn herantraten, deren Bewältigung ihn einstmals viel gekostet hatte. Kleist, Jean Paul, auch Hölderlin konnten davon ein Lied singen. Wenn man in Rechnung stellt, was es ihnen bedeutet hätte, von ihm anerkannt zu sein, fällt es nicht leicht, wozu wir kein Recht haben: ihn freizusprechen.
War Goethe der konservativen Ästhetik Zelters hörig?
In der Musik schien das in erster Linie Schubert zu betreffen – auch, weil etliche Besserwisser ihm nicht verzeihen wollten, dass er die Sendung mit Schubert-Liedern nach Wien ungeöffnet zurückschickte, zu der Joseph von Spaun, ein älterer Freund des Komponisten, diesen ermuntert hatte. Hier einen der konservativen Ästhetik Zelters hörigen Goethe zu unterstellen, geht schon deshalb nicht an, weil er die Lieder nicht zur Kenntnis genommen hat. Wie viele Sendungen solcher Art mögen am Frauenplan angekommen sein, wie viele junge Künstler, von zudringlichen Besuchern nicht zu reden, mögen Begegnung und Ermutigung erhofft haben! Zur Verteidigung eines nur ihm gehörigen Bereichs hatte der vielfach Belästigte genug Grund.
Was die Schubertsendung betraf, so kam hinzu, dass Spaun seinen Begleitbrief in bester Absicht so unterwürfig intoniert hatte, dass der alte Herr am Frauenplan von hier aus schwerlich auf den Anspruch der Lieder schließen konnte. Vielleicht wäre es noch übler ausgegangen, wenn er die Sendung geöffnet hätte: Darin nämlich befand sich das wunderbare »Ich denke dein« (»Nähe des Geliebten«, D 162) – auf einen Text, den Goethe eigens für ein von Zelter komponiertes Lied verfasst hatte; ihm ging es um die Verbesserung eines strukturgleichen Gedichts, das dieser zugrundegelegt hatte. Nur zu leicht hätte er das als Zurechtweisung des Freundes durch einen bislang kaum bekannten Musiker verstehen können.
Kein anderer seines Ranges ist bei Lebzeiten so partiell rezipiert und verstanden worden wie Schubert – mit Liedern und Klavierstücken als ausschließlich fürs Kleine, Intime, Private Zuständiger neben Beethoven als dem fürs Große Zuständigem. Die »Unvollendete« und die große C-Dur-Sinfonie hat er nie hören können, sie und die späte Kammer- und Klaviermusik sind erst Jahrzehnte nach seinem Tod bekannt geworden. So erscheint die Frage müßig, wie Goethe auf sie reagiert hätte.
Die »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«
Eines freilich bleibt zu bedenken: Dass Goethe Musik nicht nur tiefgehend verstehen, sondern bis zu tränenreichen Erschütterungen erleben konnte, ist vielfach belegt, auch von ihm selbst. Weil ihm Beethoven Angst gemacht hat, er auch hier im Vorhof bei vorsichtigem Verstehenwollen stehengeblieben ist, darf man fragen, ob man das simpel auf konservativ befangene Ästhetik herunterrechnen darf: Ob da nicht vielmehr die Grenzen einer ungeheuren, zuweilen gefährlichen Erlebnisfähigkeit erreicht waren.
Nicht zufällig sieht sich die Geschichte der Künste oftmals auf die Vorstellung der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« angewiesen – dieses substantiell, jenes chronologisch verstehend. Im emphatischen Sinne zeitgenössisch sein kann nicht heißen, in allen Bereichen up to date zu sein, in voller Breite mit dem übereinzustimmen, was pauschal »Zeitgeist« genannt wird. Nach »Werther« ist Goethe einer solchen Übereinstimmung nie mehr nahegekommen, hat sich ihr vielmehr zunehmend entzogen. Da er den fertiggestellten »Faust II« sekretierte, hat er auch die vertrautesten, verständniswilligsten Freunde dazu verurteilt, Zeitgenossenschaft zu versäumen.