»Im Digitalzeitalter ist Fotograf, wer eine Kamera hat«
Harald Wenzel-Orf, Fotografenmeister aus Weimar, im Interview über den Wandel der Fotografie vom Bauhäusler Erich Consemüller bis ins heutige Digitalzeitalter.
Herr Wenzel-Orf, mit welchen technischen Herausforderungen hatte man als Fotograf zu jener Zeit um 1926/27 zu kämpfen?
Um auf diese komplexe Frage fundiert antworten zu können, müsste man über 100 sein oder sich erst mal belesen. Ich glaube, man sollte zwischen Hobby- und Berufsfotografie, zwischen Aufnahmetechnik und Verarbeitung und so weiter unterscheiden.
Bereits um 1900 gab es einen großen Fotografie-Markt. Ausstellungen und Wettbewerbe fanden enormen Anklang. Überall in Deutschland bildeten sich photographische Vereine. Man konnte bereits handliche Klappkameras kaufen, der Rollfilm wurde erfunden und für 60 Mark bekam man ein komplettes heimisches Fotolabor geliefert.
Consemüllers Fotografie teilt sich in zwei Arbeitsbereiche: Kleinbild für die Freizeit und Großformat für den Auftrag. Beim Betreten der Ausstellung »Das Bauhaus in Bildern. Fotodokumentationen der Weimarer und Dessauer Zeit« fällt einem die Glasvitrine mit der Leica I ins Auge. Diese erste Kleinbildkamera der Welt eroberte ab 1925 den Markt. Damals kostete sie etwa das Anderthalbfache eines Monatslohns. Schwer vorstellbar, dass sich der Student Consemüller eine Leica leisten konnte. Oder war es eine Anschaffung der Schule?
Ein kleiner Teil der Ausstellung zeigt Consemüllers Leica-Fotos. Es sind Schnappschüsse, witzige Einfälle und originelle Porträts. Sie gehören in den damaligen Trend des Neues Sehens.
In den dreißiger Jahren wurde ein Franzose zum Vorbild für unzählige »Kleinbild-Fotografen«: Henri Cartier-Bresson, der Meister des »entscheidenden Augenblicks«. Er war mit seiner Leica leichtfüßig unterwegs, unauffällig und jederzeit bereit zum Schnappschuss.
Der zweite und größere Fotobereich Consemüllers war ganz anders geartet: Mit einer gewichtigen Holzkamera und 13×18 cm Glasnegativen dokumentierte der Tischler und Student Consemüller im Auftrag von Direktor Gropius Architektur und Werkstätten, Modelle und fertige Arbeiten. Denn die Großformatkamera mit ausziehbarem Balgen und ihren Verstellmöglichkeiten hatte die nötige Qualität. Sie musste groß sein, denn durch die Kontaktkopien war das Papierbild genauso groß wie das Negativ. Dafür hatten die Bilder eine große Detailschärfe und wunderbare Tonwerte. Die Belichtungszeiten waren lang, weil die Glasplatten oder Planfilme wenig lichtempfindlich waren. Deshalb gehörte auch ein stabiles Holzstativ dazu.
1991 musste ich zur Meisterausbildung mit einer Großformatkamera Werbefotos aufnehmen. Dabei waren alle Verstellmöglichkeiten zu nutzen, wie schon zu Consemüllers Zeit. Unter diesem Blickwinkel darf ich sagen: Consemüller hat als Autodidakt sein Handwerk beherrscht.
Reisefotografen hatten es schwerer als Consemüller. Unterwegs konnte die Ausrüstung zum physischen Ereignis werden. Da fallen mir Fotografen ein, die ich zu meinen Vorbildern zähle: Josef Sudek in Prag, der nach dem Ersten Weltkrieg einarmig seine Holzkameras bewältigen musste und dadurch keinen großen Aktionsradius hatte. Er quälte sich in der Landschaft ab, seine wunderbaren Stillleben entstanden vor allem im Haus und im Garten.
Oder Kurt Hielscher, quasi der Erfinder des Reisebildbandes. Mit schwerem Foto-Gepäck reiste er durch Europa. Sein Bildband »Das unbekannte Spanien« war 1921 sein erster großer Erfolg. Die Fotoplatten waren 16 x 21 cm groß, genauso wie die wunderbaren Abbildungen im Kupfertiefdruck.
Consemüller dokumentierte in seinen Fotografien die Zeit am Weimarer und Dessauer Bauhaus und die am Bauhaus erzeugten Produkte. Wie werden Produkte heute inszeniert?
Originell und einfallsreich war man schon damals, aber vieles konnte man technisch noch nicht umsetzen. Die Digitalfotografie hat uns ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Der Produktfotograf kontrolliert heute die Aufnahmen am Laptop und diskutiert mit dem Auftraggeber über die beste Variante für das Werbefoto. Heute gibt es in allen Bereichen Spezialisten. In der Food-Fotografie nutzt man die Chemie, wenn auch das Steak dann nicht mehr essbar ist, Kohlensäure wird unsichtbar in Biergläser geleitet usw. Am Computer werden Bilder völlig verändert, das Auto vor spektakulärer Landschaft steht in Wirklichkeit in einer Werkhalle- ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.
Wie hat sich die Fotografie in den letzten 100 Jahren verändert?
Inzwischen gehöre ich selbst zu den »Alten« der Branche. Die Veränderungen der Fotografie habe ich in Etappen erlebt. Als Schulkind machte ich in den fünfziger Jahren Aufnahmen von meinen Großeltern. Die Agfa Box mit dem 6×9 cm Rollfilm musste man bei 1/25 Sek. Belichtungszeit ruhig halten, verwackelte Bilder gab es genug. Ein anderes Problem dieser »Bauchnabelfotografie« war das kleine Sucherfenster, man schaute von oben hinein, suchte das Motiv und machte schräge oder angeschnittene Bilder. Vergleichbar heute: Bei grellem Sonnenlicht auf dem Display das Motiv erkennen.
Als ich 1971 das Hobbylabor meines Vermieters benutzen durfte, waren die Geräte und Abläufe kaum andere als zu Consemüllers Studentenzeiten. In den folgenden 35 Jahren Dunkelkammerarbeit habe ich manches ausprobiert. Versuche mit Bromöldruck wie um 1900 bildeten den Endpunkt meiner Experimente. Wir reden hier natürlich nur von Schwarz-Weiß-Fotografie. Die ORWO-Farbdiafilme wurden eingeschickt und kamen meist in gelb-grünlicher Anmutung zurück, heute kaum noch ansehbar.
Bis zur Wende war für unsereins die DDR-Mittelformatkamera Pentacon Six (6 x 6 cm) das Höchste an technischer Qualität. Aber sie hatte ihr Gewicht und der Rollfilm mit 8 bis 16 Aufnahmen war schnell voll, ein Filmwechsel dauerte seine Zeit.
Nach der Wende konnte ich meine Foto-Träume verwirklichen, soweit die D-Mark reichte: Ein transportables Fotostudio mit Blitzanlage, eine Mittelformat-Ausrüstung und Großformatkamera. Als ich 1989 bis 94 am Deutschen Nationaltheater Weimar als Fotograf angestellt war, konnte ich erst abends oder nachts in der Dunkelkammer das Ergebnis sehen. Dieses tägliche Fotografieren, Entwickeln, Vergrößern und Präsentieren wurde von Berufsfotografen geleistet und das war damals noch ein Alleinstellungsmerkmal.
Mit dem digitalen Zeitalter änderte sich alles. Die Qualität meiner ersten digitalen Kamera war im Vergleich zu heute miserabel, deshalb benutzte ich sie neben der altbewährten Filmtechnik nur gelegentlich. Das änderte sich von Jahr zu Jahr. Und heute? Die Profi-Ausrüstung muss ich gar nicht ständig mit mir herumschleppen. Dafür ist immer eine kleine Sony dabei, quasi als Notizbuch. Die Qualität ist erstaunlich.
Im Digitalzeitalter ist Fotograf, wer eine Kamera hat und sich traut. Die Redaktion der Tageszeitung kauft eine Kamera und dann macht der Redakteur die Fotos nebenbei – für die Leser reicht das, glaubt man. Ich habe sie abbestellt. Heute ist die Bezeichnung Fotograf oder Fotokünstler schnell zur Hand. Selber schuld, könnte man sagen, die Branche hat ihren Status schlecht geschützt. Schwer vorstellbar, dass sich jemand als Elektriker ausgibt, nur weil er einen Werkzeugkoffer hat.
Natürlich gibt es auch immer noch das gute Beispiel, ich denke an Bildjournalisten bei Zeitschriften wie DER SPIEGEL oder GEO.
Hat sich neben der Technik auch die Ästhetik der Fotografie grundlegend geändert?
Wenn man die verschiedenen Ausrichtungen der Fotografie seit etwa 1900 verfolgt, findet man zu jeder Zeit bedeutende Vertreter, bekannte Namen. Wie auch in der Malerei folgten oft gegensätzliche Strömungen aufeinander: Piktoralismus (Nähe zur Malerei), Neue Sachlichkeit (exakte, dokumentarische Wiedergabe), Neues Sehen (dynamisch, experimentell, extreme Sichten). Ich kann heute keine bestimmte Ästhetik erkennen. Bildagenturen verlangen klassische Aufnahmen in höchster Qualität, gleichzeitig vermarkten sie Handy-Fotos. Auch die Galeristen vertreten Fotografen unterschiedlicher ästhetischer Ausrichtungen.
Das Massenphänomen Fotografie erzeugt eine unendliche Anzahl von Bildern. Fast jeden Schüler mit seinen originellen Handyfotos könnte man heute dem damaligen Neuen Sehen zuordnen. Nur selten bleibt unser Blick länger an einer Fotografie hängen, noch seltener finden wir ein Bild, dass wir täglich an der Wand betrachten möchten. Unzählige perfekt aufgenommene Tier-, Pflanzen-, Landschaftsfotos, Porträts, Stillleben, Stimmungen – aber wenn sie in mir nichts anrühren, kein Gefühl wecken, sind sie schnell vergessen. Bemerkenswert vielleicht: Für viele hebt sich heute die Schwarz-Weiß-Fotografie wohltuend aus der bunten Bilderwelt ab.
Wie sehen Sie die heutige Entwicklung der Fotografie? Praktisch jeder Mensch dokumentiert sein Leben pausenlos mit dem Smartphone.
Natürlich relativiert sich die Bedeutung der Fotografie angesichts der Bilderflut. Und dennoch! Warum besuchen Menschen nach wie vor Foto-Workshops, nehmen an Wettbewerben teil, melden sich zu Fotoreisen mit Profis, fahren zu Festivals, probieren alte Techniken aus und kaufen Fotobücher? Weil in uns der Wunsch nach etwas Eigenem, Unverwechselbarem ist, die Sehnsucht nach etwas Beständigem, das vielleicht über unsere Zeit hinaus lebt, und wenn es auch nur im Familienalbum ist. Und das wird hoffentlich so bleiben!
Bis zum 24. Juni 2018 ist die Ausstellung »Das Bauhaus in Bildern – Fotodokumentationen der Weimarer und Dessauer Zeit« im Schiller-Museum Weimar zu sehen.