Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik · Kosmos Weimar
Goethe, die Weltliteratur und der Autor als hybrides Wesen
Die Stuttgarter Literaturprofessorin Sandra Richter spricht im Interview mit Nicole Alexander über ihre Erfahrung als Dozentin der Internationalen Sommerschule am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ein Gespräch über das Phänomen der Weltliteratur, Goethes unterschiedliche Sichtweisen auf dieses Thema und die Unmöglichkeit, sich mit Studenten auf einen internationalen Kanon zu einigen.
Zu Weltliteratur werde ein Buch in erster Linie durch seine weltweite Rezeption, sagt Sandra Richter. Dazu seien Übersetzungen notwendig. Neben dieser pragmatischen Seite gebe es qualitative Kriterien. Die seien aber notorisch vage.
»Oft sind solche Werke ein prononcierter Ausdruck von Tendenzen der Zeit – es geht weniger darum, was dargestellt wird als darum, wie etwas dargestellt wird.«
Auch heute noch fange die Forschung meist bei Goethe an und frage, was sich seither entwickelt habe. Einen wirklichen Begriff von Weltliteratur oder eine Theorie derselben habe Goethe allerdings nicht gehabt. Bei ihm ließen sich zwei konträre Sichtweisen feststellen: »Eine optimistische, die sagt, dass sich alle an Weltliteratur beteiligen sollten, weil sie etwas Großartiges, Kommunikatives, Freies, Partizipatives sei.
Und eine negative Sichtweise, etwa wenn er von der ›anmarschierenden Weltliteratur‹ spricht, davon, dass es keine qualitativ hochwertige Literatur mehr gebe, dass die Literatur gefährdet sei, weil immer mehr produziert werde.« Ab 1827 habe sich bei Goethe der positive Begriff entwickelt, der negative ab 1831, kurz vor seinem Tode.
Zwischen 1770 und 1830 habe es einen unglaublichen Weltenthusiasmus gegeben:
»Es wurden Begriffe geschaffen wie Weltbürger, Weltliteratur, Weltgeschichte, Weltall, Weltmarkt. In diesem Zusammenhang sind viele Konzepte entstanden, die heute noch wichtig sind. Werte entstanden, universales Denken, mit denen immer wieder und bis heute gearbeitet wird – natürlich gebrochen und mit dem Bewusstsein, dass man mit diesen Konzepten nicht so einfach und enthusiastisch umgehen kann wie damals.«
Heute fächere sich das Konzept der Weltliteratur auf: Es gebe in allen Ländern auch Literatur, die man als hybrid bezeichnen könne und müsse: »Literatur also, die mehr als einer Nation angehört. Nehmen Sie in Deutschland die deutsch-türkische Literatur mit Autoren wie Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu. Es gibt viele, viele Autoren, die sich nicht mehr nur einer Kultur zugehörig fühlen.« Das sei ein sehr typisches Phänomen, das mit Reisen und Internationalität zu tun habe und das weltweit zu beobachten sei.
Dass sich die internationalen Studenten der Sommerschule auf einen Kanon der Weltliteratur einigen könnten, glaubt Sandra Richter nicht. Dazu seien die Interessen zu unterschiedlich: »Ich denke, jede und jeder hier würde Goethe und Rilke dazuzählen, aber jenseits dessen regieren die Vorlieben.«
Das vollständige Interview können Sie im Blog des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel lesen.
Im nächsten Jahr lädt die Klassik Stiftung Weimar unter dem Titel »Wie entsteht ein Nationalautor? – Konstruktion und Ambition.« vom 1. bis 12. August zur Internationalen Sommerschule nach Weimar ein.