Das große Wunder einer 325-jährigen Geschichte
Ein Blick auf die Reihe meiner 27 Vorgänger lehrt: Wer einmal in Weimar zum Bibliothekar ernannt wird, verlässt seine Stelle in der Regel nicht mehr. Früher, als Pensionierungen noch unbekannt waren, arbeitete der Bibliothekar sogar solange, bis ihn der Tod ereilte. »Was endlich den alten, nunmehr 72jährigen Dornberger betrifft«, heißt es in den Bibliotheksakten von 1798, »so hat derselbe … seit einigen Jahren … sich wegen seiner zitternden Hand nicht mehr mit Schreiberey abgeben können«. Da hatte er noch sechs Jahre Dienst ohne obligatorischen Erholungsurlaub vor sich.
Einer der Nachfolger Conrad Schurzfleischs starb bald nach dem Schlossbrand 1774 an Erschöpfung und »Steckfluss« (Christian Bartholomaei), einer brach auf dem Weg zur Bibliothek vor dem Haus der Frau von Stein zusammen (Friedrich Wilhelm Riemer), wieder einer fiel von der Leiter wie Reinhold Köhler. Noch im 20. Jahrhundert starben die Direktoren Bojanowski, Deetjen, Blumenthal und Ortlepp während ihrer Amtszeit.
Inzwischen ist der Arbeitsschutz verbessert, die allgemeine Volksgesundheit gehoben und das segensreiche Institut der Altersgrenze eingeführt. Ein sogenannter »Ruhestand« schiebt sich zwischen Beruf und Abberufung von dieser Welt. Heute trete ich in diese Phase ein.
Das löst eine Menge widerstreitender Gefühle aus. Ich fühle mich wie nach einem langen Staffellauf: irgendwie im Zielbereich angekommen (nachdem mir in der Brandkatastrophe eine Zeitlang der Staffelstab ganz abhandengekommen war), heftig außer Atem, einerseits froh, die Strecke geschafft zu haben und den Stab weiterreichen zu können, andererseits wehmütig, weil so viel Abschied zu nehmen ist. Da ist ein starkes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den vielen Vor- und Mitläufern, auch eine Rührung ob der schönen Hymnen, die mir gesungen werden, Wehmut vor lauter Abschiednehmen. Kurzum: meine Gefühlswelt ist ziemlich durcheinander.
Wenn ich anlässlich des Gründungsjubiläums der Bibliothek etwas Prägnantes zum Thema »325 Jahre Herzogin Anna Amalia Bibliothek« zu sagen versuche, besteht die Gefahr, alles auf eine von Anfang an stimmige Vollendungsgeschichte hin zu erzählen. Dafür böte sich das Narrativ »Von der Fürstenbibliothek zur Forschungsbibliothek« an. Aber dann blieben die Brüche und Widersprüche, die in den velociferischen Zeitläufen seitwärts zurückgebliebenen Projekte und die vielen Zufälle auf der Strecke. Wir haben strategische Prioritäten definiert und Teilziele bestimmt, aber, ehrlich gesagt, wir haben auch mehr Glück als Verstand gehabt.
War es etwa kein Glück, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 1998 bereit war –zum Missbehagen der Zuwendungsgeber, die not amused waren – vielfach und kostenlos eine Anzeige mit dem drastischen Appell »Die Wiege der deutschen Klassik wird zum Grab für 900.000 Bücher, wenn Sie nicht helfen!« zu schalten? Erst nach Erregung dieses öffentlichen Ärgernisses kam die Planung für die Sanierung und Erweiterung der Bibliothek in Gang, fünf Jahre vor dem Brand.
War es etwa kein Zufall, dass sich auf diese Anzeige die vornehmste Schweizerische Anwaltskanzlei telefonisch bei mir meldete und fragte, ob uns vielleicht mit der Spende einer Mandantin in Höhe von 10 Mio. DM schon etwas gedient sei? Auch für unser späteres Helvetica-Projekt kam überraschende Hilfe aus Zürich.
War es etwa kein Glück, dass wir im Jahr 2000 aus 276 Entwürfen für das neue Studienzentrum tatsächlich den allerbesten, den von Hilde Barz-Malfatti und Karl-Heinz Schmitz aus Weimar, ausgewählt haben?
War es etwa kein Wunder, dass wir aus der tiefsten Erniedrigung, in die uns das Ereignis des 2. September 2004 gebracht hatte, statt beschimpft, verspottet und angeklagt zu werden, durch eine Welle der Hilfsbereitschaft wieder aufgerichtet wurden? Dass dem realen Kapitalverlust ein Zuwachs an symbolischem Kapital folgte?
War es etwa kein Wunder, dass Hunderte von Bauleuten, Restauratoren, Finanzexperten und Bibliothekaren den Wiederaufbau der Bibliothek in nur drei Jahren zum 24. Oktober 2007, dem Geburtstag Anna Amalias in ihrem 200. Todesjahr, punktgenau geschafft haben?
War es etwa kein Zufall, dass eines Tages der Diplom-Restaurator i.R. Günter Müller vor der Tür stand und sagte, er habe da eine Idee, wie man die brandgeschädigten Papiere in einer Spezialwerkstatt bearbeiten könne?
Zu den Glücksfällen rechne ich schließlich auch die Wahl meines Nachfolgers Reinhard Laube, den ich als Mensch und Kollegen hoch schätze. Ich bin absolut sicher, dass er das Haus in eine gute Zukunft führt.
Das größte Glück für mich aber war, hier überhaupt tätig sein zu dürfen.
Mögen die Bibliothekare an Erschöpfung und »Steckfluss« sterben oder gestählt und wohlgemut in den Ruhestand treten – das große Wunder einer 325jährigen Geschichte möge fortdauern: Es lebe die Herzogin Anna Amalia Bibliothek!