Nietzsche in der DDR
Die Rezeptionsgeschichte Nietzsches ist legendär. Sein multiperspektivisches und vielgestaltiges Werk, das nie ein geschlossenes System sein wollte, wurde von verschiedensten Strömungen vereinnahmt, gepriesen und verteufelt. Während ihn die einen als Heiligen verehrten, war er den anderen als Immoralist, Antichrist oder Staatsfeind verhasst. Kurt Tucholsky schrieb treffend: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur…“
Vor allem seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche hatte als Nachlassverwalterin und Leiterin des Nietzsche-Archivs in Weimar trotz Nietzsches eigener Bedenken einen regelrechten Kult ins Leben gerufen. Nach ihrem Tod nutzte das Nietzsche-Archiv die Ambivalenzen der Texte Nietzsches, um sich zu einer tragenden nationalsozialistischen Kulturinstitution zu entwickeln. Gleich nach dem 2. Weltkrieg löste daher die sowjetische Besatzungsmacht das Nietzsche-Archiv als Institution auf. In der DDR galt Nietzsche insbesondere aufgrund der einflussreichen Schriften von Georg Lukács als Vordenker des Nationalsozialismus, sein Werk wurde tabuisiert.
Trotzdem konnten Giorgio Colli und Mazzino Montinari ab Anfang der 1960er Jahre in Weimar an einer kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken arbeiten. Die Handschriften Nietzsches wurden im Goethe- und Schiller-Archiv, seine Bücher in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der wissenschaftlichen Benutzung zugänglich gemacht. In den 1980er Jahren begannen in der DDR erste Diskussionen über eine Revision des offiziellen Nietzsche-Bildes, die allerdings durch die Wende obsolet wurden.
Im Interview spricht Prof. Dr. Lothar Ehrlich, ehemaliger leitender Mitarbeiter der Klassik Stiftung Weimar, über die Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption in der DDR und den Weg zur Wiedereröffnung des Nietzsche-Archivs 1990. Das Interview führte Sabine Walter.
(Anm. der Redaktion: 1985 erschien in Leipzig eine Faksimile-Ausgabe von „Ecce Homo“)