»Ernestiner« trifft Bauhaus, Teil 1:
»Maria Pawlowna durch eine Sonnenbrille«
»Ernestiner« trifft Bauhaus: Wir haben Künstlerinnen und Künstler der Bauhaus-Universität Weimar gebeten, Werke der Ernestiner-Ausstellung neu zu interpretieren und Ideen sowie Herangehensweise in einem kurzen Text zu beschreiben. Im Blog zeigen wir jede Woche ein Ergebnis. Den Anfang macht Adam Noack. Er hat sich ein Porträt der Großherzogin Maria Pawlowna gewählt.
Zum ersten Mal traf ich auf dieses junge, etwas pausbackige, ziemlich naive aber trotzdem hübsche Mädchenporträt auf meinem Laptop-Bildschirm. Eigentlich ging es darum, im Zuge der Ausstellung »Die Ernestiner. Eine Dynastie prägt Europa« eine Auswahl von Bildern neu zu interpretieren. Eventuell eine clevere Werbeidee? Ich hatte keine Ahnung!
Mir gingen direkt die verschiedensten Ideen durch den Kopf und ich bekam Lust, genau dieses Porträt malerisch neu zu interpretieren. Dieses naive, aus längst vergangener Zeit so romantisch gemalte Bildchen schrie förmlich nach einer Wiederbelebung.
Aber wie? Ich betrachtete es immer wieder und trug es in meinen Gedanken mit mir herum. Mir kamen Zweifel. Würde ich es malerisch neu interpretieren können oder wäre es nichts als eine Entstellung, ein Abklatsch? Durch meine »bevorzugte Beschäftigung« mit der zeitgenössischen Kunst hatte ich die Kunstgeschichte dieser Epoche völlig vernachlässigt.
Aus diesem Blickwinkel ist das Porträt dann doch leider bloß ein kitschiges, mittelmäßiges »Romantikerding«; nicht von Bedeutung im Hier und Jetzt.
Ich war ratlos, guckte es mir aber immer wieder an und versuchte meinen Blick zu schärfen. Vielleicht sollte ich es einfach sich selbst überlassen, sodass es für seine noch verbleibende Zeit ganz in Ruhe in irgendeinem Museumsarchiv vor sich hin schlummern könnte?
Oder male ich diesem Ding eine Hängetitte drauf? Das wäre doch ein »Hingucker«. Und ‘ne Sonnenbrille von Gucci dazu – für die nötige Portion Coolness? Und dann wieder meine Zweifel. Diese »Heile-Welt-Stimmung«, die dieses Bild für mich vermittelte, hatte ich mit der Zeit irgendwie lieb gewonnen.
Mich überkam fast so etwas wie Mitleid.
Ich dachte: »Ach du armes Maria-Pawlowna-Porträt«. So etwas hatte anscheinend damals schon keine Chance, im Kunstdiskurs Bedeutung zu erlangen.
Dabei war doch diese Maria Pawlowna Großfürstin von Russland und später durch Heirat Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach. Was Bitteschön hat dieses Gemälde mit der Prägung Europas zu tun?
Merkwürdigerweise ist nicht einmal der Maler bekannt. Wie bitteschön kann das sein? Meine Nachforschung blieb jedenfalls vergebens. Ein verlorenes Bilder-Schicksal? Eine Lüge? Oder doch ein Mythos? Ein Porträt eines noch unentdeckten Meisters?
So kam ich zu dem Entschluss, es einfach toll zu finden!
Ich sehe ein wunderschönes Mädchen, freizügig, doch umhüllt von einem purpurroten Tuch bester Thüringer Seide. Welch‘ meisterlicher Faltenwurf. Darunter ein weißes Kleid mit hübschem Ausschnitt, körperbetont durch ein goldenes, ich nenne es mal »Gedängsel« (damit meine ich dieses aus drei Goldkettchen bestehende Gürtelchen, gehalten von einer mit kostbarstem Edelstein besetzten Brosche)!
Ist das nicht ein herrlicher Farbkontrast? Purpurrot, Weiß und Gold? Und diese wunderschönen Haare – zurechtgemacht in wundervollster Lockenpracht! Der Große Unbekannte muss scharfen Sinnes erkannt haben:
Diese junge Dame hat gerade den Lockenwickler für sich entdeckt!
Und solch eine aufwändige Frisur muss man erstmal mit lockerer Hand malen; das war hier sicherlich ein Meister seiner Gattung. Dazu dunkle Wolken, welch überspitzende Dramatik. Das Gewitter zieht hier nicht erst auf, es ist schon aufgezogen! Und trotzdem: Die Frisur sitzt! Mir fehlen die Worte.
Die wundervollen Mandelaugen scheinen eine Art jugendliche Vernunft, ja sogar Weisheit auszustrahlen. Dazu dieses erotische Dekolleté. Wer sich traut, dort einen Blick hin zu riskieren, sei gewarnt. Es hat sicherlich schon manch einem den Kopf verdreht. Und zwar in dem Sinne, dass man an nichts anderes mehr denken mag als an diese Malerei.
Die helle Hautfarbe der Brust scheint zu verschmelzen mit der blütenweißen Gewandseide.Welch‘ angenehme Augenweide.
Eine Darstellung der jungfräulichsten Mutter des unheimlich geschichtsträchtigen Weimarer Musenhofes. Dazu ein Hals absoluter Extraklasse. Diese Großherzogin wäre selbst bis ins entfernte Myanmar eine Schönheitsgöttin gewesen.
Um der unbekannten Meisterleistung auf die Spur zu kommen müsste man noch vieles in diesem Gemälde erkundschaften und ausführen. Mit meinen begrenzten Möglichkeiten auf meinem Laptop kann ich leider nur noch auf ein ganz offensichtliches Mysterium hinweisen:
Der Fremdling war nicht nur Malerfürst, sondern auch Hellseher.
Soviel ist sicher. Im Hintergrund des Bildes wird klar, dass er die Zukunft um mehr als 150 Jahre voraus gesehen hat.
Hier ist ein Phänomen der Südthüringer Landschaft abgebildet, welches im Alltagsgewitzel auch als »Monte Kali« oder auch »Kalimandscharo« genannt wird. Und zwar ist dort die seit 1976 entstehende –, mittlerweile gigantisch angewachsene Abraumhalde des Kaliwerks bei Heringen (Werra) im Landkreis Hersfeld-Rotenburg zu sehen.
Eine wirklich geschickt eingesetzte Bildmetapher für die damals aufkommende Industrialisierung.
Langsam, so merke ich, nimmt das Porträt Fahrt auf. Wie so oft sitze ich völlig rastlos in der Bahn, auf dem Weg irgendwohin. Meine Gedanken umkreisen dieses Zarentochter-Porträt, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, einer Lösung.
Ich blättere in der Bahnzeitschrift, in Gedanken sinnierend, und plötzlich: siehe da! Ich schaue in die Augen… ja, in diese wunderschönen Mandelaugen, die ich gerade beschrieb. Aber leider gucke ich nicht einer jungen Zarentochter entgegen, sondern bin auf der Rückseite des Bahnreisemagazins angelangt.
Etwas enttäuscht lese ich in großen Buchstaben gedruckt: »FÖRDERT TALENTE!«.
Eine Anzeige für die Thüringer Landesausstellung. Aber trotzdem, ein kurzer Lichtblick. Ein Zeichen. Ich muss auf dem richtigen Wege sein, auf der Suche nach Ihr!
Förderin der Künste und Talente, Schutzpatronin der Kreativen und Armen, Verkörperung der Idealbürgerin, weltoffen, mit russischem Geld, Ideenreichtum, staatspolitischer Verantwortung und unternehmerischem Ehrgeiz ausgestattet:
Ernestiner, großzügige Mäzenen und russische Zarentöchter! Prägen wir Europa! Es lebe der Weimarer Musenhof!