Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
»Rheinische Absurditäten«.
Zwei Faschingsorden für Goethe
Die Liste der Orden, mit denen Johann Wolfgang von Goethe dekoriert wurde, ist lang: 1808 erhielt er auf persönliche Veranlassung Napoleons das Ritterkreuz und 1818 durch Ludwig XVIII. das Goldene Kreuz der französischen Ehrenlegion. Zar Alexander I. ließ 1808 den russischen Orden 1. Klasse der Heiligen Anna, der österreichische Kaiser 1815 den Leopoldorden überreichen. Von seinem Landesherrn Großherzog Karl August wurde Goethe 1816 mit dem Großkreuz des sachsen-weimarischen Hausordens der Wachsamkeit oder vom Weißen Falken bedacht. 1827 folgte der Civil-Verdienstorden Bayerns.
Im Oktober 1828 brachte der Postbote ein Päckchen aus dem niederrheinischen Dülken; es enthielt zwei Orden des »hohen Senats« der »Berittenen Akademie der Künste und Wissenschaften und der Mondsuniversität«, die sich schon äußerlich von den üblichen Ehrenabzeichen sehr unterschieden. Ein gewisser Dr. Tütebies hatte dem Geheimrat mit der Ernennungsurkunde zum »erlauchteten Doktor der Monds-Universität« einen kleinen Halbmond und eine zweiflüglige Windmühle geschickt. Ob Goethe, der die rheinische Karnevalskultur aus der Ferne interessiert verfolgte, wusste, dass damals nicht Köln oder Düsseldorf, sondern das kleine Dülken der Nabel der närrischen Welt war?
Kurz nach dem Einzug der französischen Truppen ins Rheinland 1794 waren Umzüge und Maskenbälle verboten und nur allmählich unter strengen Auflagen wieder gestattet worden. Den maskierten Karnevalisten war es strengstens untersagt Waffen zu tragen, und das tolle Treiben durfte keinesfalls die öffentliche Ordnung gefährden. Nur gegen eine Gebühr, die der lokalen Armenfürsorge zugutekommen sollte, wurde den Karnevalisten die Kostümierung gestattet. Die polizeilichen Auflagen behielten nach dem Wiener Kongress, auf dem die europäischen Mächte Europa neu geordnet hatten und das Rheinland dem preußischen Königreich zugefallen war, ihre Gültigkeit. Während so viele närrische Bräuche in Köln, Düsseldorf, Aachen und Bonn den verschiedenen Obrigkeiten zum Opfer gefallen waren, pflegte die seit angeblich Mitte des 16. Jahrhunderts bestehende und in einer Mühle tagende Narrenakademie in Dülken weiter die alten Traditionen.
In Köln gründeten Kaufleute, Beamte, Juristen und Ärzte 1823 ein »Festordnendes Komitee«, um das karnevalistische Treiben wiederzubeleben und zukünftig in angemessene Bahnen zu lenken. 1825 feierten Düsseldorfer Karnevalisten und Mitglieder der benachbarten Narrenakademie gemeinsam die »Hochzeit des Herrn Giselinus von der berittenen Narrenakademie und Monduniversität aus Dülken mit Fräulein Prisca Petronella aus Düsseldorf«.
Von der Erneuerung des Kölner Karnevals, der mit »ungewöhnlicher Wichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Pracht« gefeierten worden war, hatte Goethe am 9. März 1824 durch den Bonner Botaniker Christian Gottfried Nees von Esenbeck erfahren. Auch Großherzog Karl August berichtete dem Dichter, dass in der nunmehr preußischen Rheinmetropole »die Sache in großer Ordnung geführt« werde. Der Einladung des Karnevalskomitees zu den Festivitäten 1825 in Köln folgte Goethe nicht, bedankte sich aber mit einem Lobgedicht auf den ›Cölner Mummenschanz‹. Ein Jahr zuvor hatte er sich in seiner Zeitschrift ›Über Kunst und Altertum‹ zum »sittlich-ästhetischen Werth« des reformierten Karnevals wohlwollend geäußert, nachdem er für eigene Recherchen mit 20 Fragen zur Tradition und Erneuerung des Karnevals an das Komitee herangetreten war.
Fünf Fragen sandte Dr. Tütebies alias Heinrich Weimann (1798–1832) – er hatte 1823 die Bonner Universität ohne Abschluss verlassen müssen und verdiente seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer – zusammen mit den zwei Orden an Goethe. Damit sich die »Berittene Akademie der Künste und Wissenschaften« von den »akademischen Fähigkeiten und Talenten« des neuen Narrendoktors überzeugen könne, erhielt Goethe acht Wochen Zeit, um etwa die närrischen Fragen »Wie schießt man mit einer Kanone um die Ecke herum?« oder »Wie viel Pinsel gehören zu einem Publikum?« zu beantworten.
Fast 700 Ehrenmitglieder im In- und Ausland zählte die Akademie unter der Leitung des umtriebigen Sekretärs Weimann; einer der Narrendoktoren lebte auf der Insel Java. Zu den Mitgliedern der Dülkener Akademie gehörte neben dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, dem Schriftsteller und Übersetzer August Wilhelm von Schlegel und dem Mineralogen Jakob Noeggerath auch Nees von Esenbeck, dem es 1825 noch gelungen war, Weimann von der Ausstellung eines Diploms für Goethe abzuhalten.
Goethe bedankte sich weder für die beiden Orden und das Ehrendiplom, noch beantwortete er die gestellten Fragen. Ob der Dichter den Mond- und den Windmühlen-Orden jemals angeheftet hat, ist nicht überliefert. Die Dülkener Sendungen, darunter auch die Statuten des karnevalistischen Traditionsvereins und Beschreibungen der Ordensfeste, bewahrte er in seinem Arbeitszimmer auf, versehen mit der Aufschrift »Rheinische Absurditäten«.
Christian Hain ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projekts »Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform«. Zusammen mit Ulrike Bischof und Claudia Häfner kuratierte er die Ausstellung »Allerlei Mitgeschicktes. Briefe an Goethe und ihre Beilagen«, die bis 22. Juli 2018 im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar zu sehen ist.
Die nächste Kuratorenführung findet am 13. Juni 2018 um 16 Uhr statt.