Stich zu Dante Alighieris Canto 31, Paradiso, Gustave Doré (1832–1883), Cassell & Company, London

Stich zu Dante Alighieris Canto 3, Inferno, Gustave Doré (1832–1883), Klassik Stiftung Weimar

Dante und Vergil, Kreidezeichnung, 1796, Asmus Jakob Carstens (1754–1798), Klassik Stiftung Weimar

Antonio Fulgoni, La Divina Commedia di Dante Alighieri, Cantica III (Il Paradiso), novamente corretta, spiegata e difesa da F. B. L. M. C. (Baldassare Lombardi), 1791, aus der Bibliothek von Herzogin Anna Amalia, Klassik Stiftung Weimar

Krümme eines Bischofstabes mit Madonna und zwei Engeln, Anfang 14. Jh., Klassik Stiftung Weimar, Kunstsammlungen (Inventar-Nr. 1, am 6. Januar 1820 von Goethe gestiftet)

»un altro viaggio« – Dante,
eine Einführung

Dantes Commedia, dies poetische Wunderwerk an der Schwelle zum 14. Jahrhundert, beginnt mit einem dramatischen Orientierungsverlust in einem Augenblick, der der Gipfelpunkt des menschlichen Lebensbogens sein sollte: »Nel mezzo del cammin di nostra vita«. Die »Mitte unseres Lebenswegs«, der nach Dantes eigener Vorstellung wie nach der Vorstellung seiner Zeit im 35. Jahr seinen Gipfelpunkt erreichen soll, ist für Dante ein Tiefpunkt seiner eigenen »via diritta«, seines geraden Wegs, der sich in der Weglosigkeit der nächtlichen »selva oscura«, des dunklen Waldes verloren hat.

Dante hat diesen Augenblick zeitlich genau markiert: Es ist der Karfreitag des Jahres 1300. Wäre Dante in diesem Jahr, wie er nahelegt, 35 Jahre alt geworden, dann wäre sein Geburtsjahr das Jahr 1265, was uns Anlass gibt, in diesem Jahr seinen 750. Geburtstag zu feiern.

Von einer Lebenskrise Dantes im Jahr 1300 ist nichts bekannt.

Im Gegenteil, es ist das Jahr, in dem Dante den Gipfelpunkt seiner Laufbahn als Florentiner Lokalpolitiker erreicht hat und zu einem der neun Prioren der Stadt ernannt wurde. Stattdessen ist das Jahr 1302 für Dante das Jahr einer Lebenskatastrophe. Nach einem Umschwung der Florentiner Machtverhältnisse zwischen den beiden feindlichen guelfischen Fraktionen der Weißen und der Schwarzen wird Dante, der politisch den Weißen zugehört, von den neuen Machthabern vor Gericht gestellt, seiner politischen Ämter enthoben und schließlich unter Verlust seines Familienvermögens und seiner zurückbleibenden Familie aus der Stadt verbannt.

Bis zu seinem Tod hat Dante sein geliebtes und gehasstes Florenz nicht wiedergesehen

Von nun an führt Dante die prekäre Existenz eines Besitz- und Heimatlosen, wie er selbst schreibt, als Schiff ohne Ruder von den Winden Fortunas hierhin und dorthin getrieben.

Stich zu Dante Alighieris Canto 3, Inferno, Gustave Doré (1832–1883), Klassik Stiftung Weimar

Stich zu Dante Alighieris Canto 3, Inferno, Gustave Doré (1832–1883), Klassik Stiftung Weimar

 

Es ist die Lebenssituation des Exilierten, die Dante, der sich als Liebesdichter in Florenz schon einen Namen gemacht hatte, dazu führt, seinem richtungslosen Leben eine neue Richtung zu geben und zwar mit dem unerhörten Projekt einer Dichtung, die Welt und Selbst umfassen soll und mit der er dem infamen Florenz entgegentreten will, das ihn vertrieben hat. Das Werk, dem er den Titel Commedia geben wird, folgt einem Plan, der seine formale Struktur von vornherein festlegt.

Wie ein mittelalterlicher Baumeister legt er dabei ein auf dem Prinzip der Dreiheit beruhendes Modul zugrunde, das von der kleinsten poetischen Einheit, der Terzine, bis zur umfassenden Ganzheit einer Weltdichtung aus drei Teilen von jeweils dreiunddreißig Gesängen und einem Eingangsgesang führen soll und in dem der Gedanke eines Zusammenspiels von thematischer und formaler Dreiheit sich in einem unvergleichlichen Lebenswerk verwirklicht, das Dante erst kurz vor seinem Lebensende 1321 vollenden wird.

Der historische Dante, nennen wir ihn Dante persona, entwirft sich neu als Autor, als Dante autore und dieser wird zum Urheber einer imaginären Gestalt des eigenen Ich, zu Dante personaggio.

Es ist Dante als Dante autore, der die Lebenskatastrophe von 1302 zu der einen Karfreitagsnacht des Jahres 1300 verdichtet, in der Dante personaggio die Erfahrung einer so radikalen Selbst- und Weltverlorenheit macht, dass sie ihn an den Rand des Selbstmords führt. Der Gedanke liegt nicht fern, dass dies eine eigene Erfahrung Dantes selbst gewesen sein könnte.

Dante und Vergil, Kreidezeichnung, 1796, Asmus Jakob Carstens (1754–1798), Klassik Stiftung Weimar

Dante und Vergil, Kreidezeichnung, 1796, Asmus Jakob Carstens (1754–1798), Klassik Stiftung Weimar

Am Morgen nach der im dunklen, weglosen Wald verbrachten Schreckensnacht, die sich Dante personaggio so tief eingeprägt hat, dass Dante der Autor in der Rolle des Ich-Erzählers sagen kann: »che nel pensier rinnova la paura«, dass in Gedanken der Schrecken erneut lebendig wird, schöpft Dante neue Hoffnung, ehe drei wilde Tiere, Lux, Löwe und Wölfin, allegorische Gestalten der Florenz beherrschenden Mächte Geldgier, Neid und Hochmut, ihm den Weg verstellen. In dieser neuen Ausweglosigkeit erblickt er eine Gestalt, die ihn stumm betrachtet und die er in seiner Verzweiflung um Hilfe anfleht. Erst jetzt gibt diese sich zu erkennen: es ist der Schatten Vergils, des Dichters, der Dante und seiner Zeit als der größte Dichter der Antike galt. Vergil, den Dante als seinen Lehrer im Dichten stürmisch begrüßt, erkennt, dass nur das Äußerste Dante retten kann: »A te convien tenere altro viaggio.« – »Du mußt eine andere Reise unternehmen.«

Nur eine Reise, die Dante des Sinns der Welt und ihrer göttlichen Ordnung versichert, kann ihn von seiner radikalen Sinnverfinsterung noch heilen.

Die »andere Reise«, die Vergil Dante verspricht, ist eine Reise durch die den lebenden Menschen verschlossenen Weltregionen des Inferno, der ewigen Strafen, des Purgatorio, der Welt des Übergangs und der Reinigung und schließlich des Paradiso, der Welt der göttlichen Glückseligkeit in ihrer von Himmelssphäre zu Himmelssphäre wachsenden Intensität.

Dantes rückhaltlose Zustimmung zu Vergils unerhörtem Projekt weicht aber der Besorgnis, die sich erst legt, als Vergil ihm enthüllt, er sei in höherem Auftrag gekommen, um Dante aus einer Situation extremer Verzweiflung zu retten, die unschwer als die des bevorstehenden Selbstmords zu entschlüsseln ist. Begleitet von Vergil wagt Dante den Abstieg von Höllenkreis zu Höllenkreis bis hinab zur Mitte der Erde, wo Luzifer immer neu die drei Erzverräter Judas, Cassius und Brutus zermalmt.

Jeder der Verdammten, denen Dante und Vergil begegnen, ist in einer endlosen Durcharbeitung an die Geschichte seiner Verfehlung des ewigen Heils gekettet. Die Hölle ist eine Hölle der Erinnerung.

Es gibt im Inferno, mit Ausnahme des Limbo, wo Vergil mit den großen heidnischen Gestalten der Antike seinen Ort hat, keine Kommunikation. Jeder der Verdammten ist mit sich selbst und der ihn peinigenden Strafe allein. Wenn Dante aber nach ihrem Schicksal fragt, antworten sie ihm oft mit wahren Skulpturen der Erinnerung, in denen sich Dantes souveräne Sprachkunst erweist. Immer wieder ist Dante vom Anblick der Verdammten so erschüttert, dass er das Bewusstsein verliert und von Vergil zur Standhaftigkeit ermahnt werden muss.

Antonio Fulgoni, La Divina Commedia di Dante Alighieri, Cantica III (Il Paradiso), novamente corretta, spiegata e difesa da F. B. L. M. C. (Baldassare Lombardi), 1791, aus der Bibliothek von Herzogin Anna Amalia, Klassik Stiftung Weimar

Antonio Fulgoni, La Divina Commedia di Dante Alighieri, Cantica III (Il Paradiso), novamente corretta, spiegata e difesa da F. B. L. M. C. (Baldassare Lombardi), 1791, aus der Bibliothek von Herzogin Anna Amalia, Klassik Stiftung Weimar

Unter Dantes Begegnungen mit den großen Gestalten der antiken wie der modernen Welt kommt der mit Odysseus, der als falscher Ratgeber im 8. Höllenkreis büßt, besondere Bedeutung zu. Auf Bitten Dantes und Vergils erzählt Odysseus in äußerster Gedrungenheit seine Geschichte. Am Ende seines Lebens bricht er, statt nach Ithaca zurückzukehren, mit seinen Gefährten nach Westen auf, um den ganzen Mittelmeerraum zu erforschen.

Am äußersten Ende der bekannten Welt, an den Säulen des Herkules angekommen, wagt er sich in einem Akt grenzenloser Verwegenheit mit seinen Gefährten auf das unbekannte westliche Weltmeer hinaus, wo er, nach Süden abgetrieben, schließlich fast das Ufer des Läuterungsbergs erreicht hätte, wäre er nicht durch einen von Gott gesandten Sturm mit seinen Gefährten in die Tiefe gerissen worden.

Auch die Entdeckungsreise des Odysseus ist ein »altro viaggio«, eine »andere Reise« mit der Dante sich bis in sprachliche Formulierungen hinein immer wieder identifiziert.

Nachdem Dante und Vergil den tiefsten Ort der Hölle erreicht haben, finden sie einen Weg nach oben, auf dem sie in der den lebenden Menschen unzugänglichen südlichen Hemisphäre an den Strand des Läuterungsbergs gelangen, vor dem Odysseus unterging. Ihr Aufstieg führt sie von Stufe zu Stufe bis hinauf zum paradiso terrestre, dem irdischen Paradies, aus dem einst Adam und Eva vertrieben wurden und wo jetzt die gereinigten Seelen ihren Aufflug in die Sphären des himmlischen Paradieses vorbereiten.

Krümme eines Bischofstabes mit Madonna und zwei Engeln, Anfang 14. Jh., Klassik Stiftung Weimar, Kunstsammlungen (Inventar-Nr. 1, am 6. Januar 1820 von Goethe gestiftet)

Krümme eines Bischofstabes mit Madonna und zwei Engeln, Anfang 14. Jh., Klassik Stiftung Weimar, Kunstsammlungen (Inventar-Nr. 1, am 6. Januar 1820 von Goethe gestiftet)

Das Purgatorio ist eine Zwischenwelt zwischen Zeit und Ewigkeit, wo die Seelen einander fürsorglich zugewandt sind, während die Verdammten des Inferno in ewiger Vereinzelung ihre Sünden büßen müssen. Der Natur dieser Zwischen- und Übergangswelt entspricht, dass hier die Kunst als ein Zwischenreich eigener Art ihren Ort hat. Musik, Malerei, Bildhauerkunst und Dichtung sind für Dantes Erfahrung bei seinem Aufstieg zum paradiso terrestre von wesentlicher Bedeutung. Insbesondere im 10. und 11. Gesang des Purgatorio treten göttliche, ganz der Zeit enthobene und menschliche, ganz der Zeit verfallene, Kunst in einen dramatischen Kontrast, der einzig in Dantes Dichtkunst selbst aufgehoben zu sein scheint.

Mit der Ankunft im irdischen Paradies auf der höchsten Höhe des Läuterungsbergs verliert Dante zu seinem Schmerz seinen treuen Begleiter Vergil, dem, da er sich nicht zum Christentum bekehrte, das himmlische Paradies verwehrt ist und dem auch nur als Begleiter Dantes erlaubt war, seinen Ort im Limbo zu verlassen.

An seine Stelle tritt jetzt die lange schon ersehnte Jugendliebe Beatrice, die Dante freilich zuerst mit harten Worten zurechtweist. Doch nachdem Dante seine einstige Treulosigkeit unter Tränen bereut hat, ist er darauf vorbereitet, in Begleitung Beatrices zum dritten, unerhörtesten Teil seiner »anderen Reise« aufzubrechen.

Von Himmelssphäre zu Himmelssphäre begegnet Dante jetzt immer neuen Gestalten der Glückseligkeit, während Beatrice immer mehr an strahlender Schönheit gewinnt, der Dantes Auge nicht standhält. Im 5. Himmel, dem Himmel des Mars, begegnet Dante seinem Ahn Cacciaguida, der ihm in klaren Worten sein Los im Exil vorhersagt. Im 26. Gesang, der dem 26. Gesang des Inferno, dem Odysseusgesang genau entspricht, findet Dante sich in der Gegenwart der Lichtseele Adams, dem nur für kurze Zeit der Aufenthalt im irdischen Paradies vergönnt war.

Es ist nicht die Verlockung Evas, die ihn verleitete, zu seinem Verderben und zum Verderben des ganzen Menschengeschlechts das göttliche Gebot zu überschreiten, sondern einzig sein Drang nach Erkenntnis.

Das Verlangen, das gesetzte Zeichen zu überschreiten (»il trapassar del segno«), sei sein Unglück gewesen. Bis in das sprachliche Detail entspricht dies dem Verlangen des Odysseus, die noch unbekannte Welt hinter der untergehenden Sonne zu entdecken. Adam ist ein anderer Odysseus, Odysseus ein anderer Adam und Dante mit seinem »altro viaggio« fügt sich als dritter in diese Reihe ein.

Stich zu Dante Alighieris Canto 31, Paradiso, Gustave Doré (1832–1883), Cassell & Company, London

Stich zu Dante Alighieris Canto 31, Paradiso, Gustave Doré (1832–1883), Cassell & Company, London

 

Wird Dante das Höchste, der Anblick Gottes in der Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist gewährt?

Dante glaubt sich daran zu erinnern, aber die Übermächtigkeit der Erfahrung hat seine Erinnerung ausgelöscht. Die Commedia endet mit dem höchsten Augenblick, doch jenseits steht am Horizont bereits die Erfahrung des prophezeiten Exils, aber auch das Werk, das Dante dem Exil entgegensetzen wird.

Der Weg von Dante personaggio durch die drei Jenseitsreiche von Inferno, Purgatorio und Paradiso ist zugleich der Weg Dantes, des Autors, zu seinem Werk. Auch für diesen hat Dante sich Vergil als Begleiter erwählt, wohl nicht ganz ohne Hoffnung, die Aeneis, dies Meisterwerk antiker Dichtung, noch zu übertreffen. Aber der Weg zum Werk, den Dante selbst schon zu Beginn des 25. Gesangs des Paradiso im Horizont seiner Vollendung sieht, ist zugleich das vollendete Werk selbst, das seinen Bauplan oder seine road map verwirklicht hat.

Die Commedia ist dreifach lesbar: als Weg zum Höchsten, als Weg zum Werk und als dieses Werk selbst. In dieser Dreiheit erfüllt sich das triadische Modul, dessen poetische Realisierung die Erfüllung jenes Pakts bedeutet, den Dante als Baumeister der Commedia mit sich selbst geschlossen hat und in dessen Zeichen die zweite Hälfte seines Lebens steht.

Karlheinz Stierle

Karlheinz Stierle ist emeritierter Professor für Romanische Literaturen an der Universität Konstanz, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der italienischen Nationalakademie sowie Ehrenmitglied der italienischen Dante-Gesellschaft. Seine Veröffentlichung über Dantes Commedia wurde mit dem Fiorino d’oro der Stadt Florenz ausgezeichnet. 2014 wurde Stierle für seine Verdienste um die italienische Literatur zum Kommandeur des italienischen Verdienstordens ernannt.

Unter dem Titel »Après une lecture du Dante« veranstaltet die Klassik Stiftung vom 23. bis 25. Oktober 2015 zum vierzehnten Mal das Festival MelosLogos. Es ist dem italienischen Autor Dante Alighieri (1265–1321) und im Besonderen seiner »Göttlichen Komödie« gewidmet.

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