Eine Mitarbeiterin aus dem Digitalisierungszentrum der Klassik Stiftung Weimar scannt ein florales Bildmotiv. Foto: Thomas Müller © Klassik Stiftung Weimar
Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Wir scannen das 18. Jahrhundert
von Andreas Schlüter
Weimar digitalisiert seine alten Drucke für eine virtuelle Nationalbibliografie.
Was würde Goethe – und sicherlich auch Schiller – sagen, wenn sie wüssten, dass wir ihre frühen Werke heute als „Alte Drucke“ bezeichnen? Sie wären sicherlich empört und wenig begeistert. War es doch Goethes Buch „Die Leiden des jungen Werthers“, das den noch jungen Dichterfürsten im Jahr 1774 in ganz Europa bekannt machte.
Dieses Werk ist der Epoche des „Sturm und Drang“ zuzuordnen. Und was da so stürmte und drängte, kann doch unmöglich ein „alter Druck“ sein? Modern und richtungsweisend war es. Aber alt? Aus Goethes Sicht wäre die Kritik daran also verständlich, wie die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek und auch andere Bibliotheken seine Erstlingswerke heute bezeichnen.
Johann Wolfgang von Goethe sollte sich hier nicht vom Etikett blenden lassen. Wie so oft steckt hinter einer schnöden Bezeichnung mehr, als der Name anfangs vermuten lässt. Als „alte Drucke“ werden all jene gedruckten Werke bezeichnet, die bis zum Jahr 1850 erschienen sind.
Genau um diese „alten Drucke“ geht es auch in dem hier vorgestellten Projekt „VD-18“, genauer gesagt, um einen Teil davon. Denn das Projekt widmet sich all jenen Druckerzeugnissen, die zwischen den Jahren 1701 und 1800 im deutschen Sprachraum erschienen sind. Aufgenommen werden auch deutschsprachige Werke, die im Ausland verlegt wurden.
Ziel ist es, all jene Werke in einem zentralen Verzeichnis zu erfassen. Doch was verbirgt sich hinter der kryptischen Bezeichnung „VD-18“? Es steht für „Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts“.
600.000 Titel, 21 Bibliotheken, eine Datenbank
Im 18. Jahrhundert sind immerhin 600.000 Druckschriften erschienen – und dies alleine im deutschen Sprachraum! Im 17. Jahrhundert waren es „nur“ 270.000 Werke, im 16. Jahrhundert kaum mehr als 100.000.
Zum Vergleich zwei Zahlen aus der Gegenwart: Im Jahr 2010 sind etwa 95.000 Titel in Deutschland erschienen, 2019 waren es immerhin noch 80.000. Dabei waren übrigens auch etliche „Klassiker“, denn zum Beispiel Goethes Werke werden auch heute noch vielfach verkauft. Aber zurück zum 18. Jahrhundert: Wie soll nun eine Bibliothek diese Menge von 600.000 Büchern katalogisieren und archivieren?

Taufbrief, Christliche Erinnerung (1755), Verfasser unbekannt
Nun ist es so, dass Bibliotheken von jeher auf Zusammenarbeit angelegt sind. Die 600.000 Bücher verteilen sich auf viele Einrichtungen in ganz Deutschland. Aktuell sind es etwa 20 Bibliotheken, die sich für das Gemeinschaftsprojekt VD-18 zusammengetan haben. Ziel ist es, eine virtuelle Nationalbibliographie entstehen zu lassen. Alle Werke des 18. Jahrhunderts werden in einem zentralen Verzeichnis erfasst, eine Ausgabe eines jeden Werkes wird digitalisiert. Und durch die Digitalisierung wird ein weltweiter kostenfreier Zugriff ermöglicht.
Diese Kooperation ist auch dem Umstand geschuldet, dass es in Deutschland erst seit 1912 eine Nationalbibliothek gibt, die systematisch alle im Land erscheinenden Bücher sammelt. Andere Länder hatten eine solche Institution schon deutlich früher aufgebaut. In Frankreich wurde sie zum Beispiel schon 1666 gegründet, in den USA im Jahr 1800.
Es gibt also in Deutschland keine Bibliothek, die den gesamten Bestand der im 18. Jahrhundert erschienenen Druckwerke besitzt. Selbst die großen Bibliotheken in Berlin, München oder Göttingen können hier keinen lückenlosen Bestand vorweisen.
Vergessenes neu entdecken
So sind es die vergleichsweise kleinen Einrichtungen, und zu ihnen zählt auch die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, die hier so manches Werk beisteuern können, welches nur noch in ihren Sammlungen vorhanden ist. Das trifft natürlich vor allem auf Werke mit einem starken Regionalbezug zu. So zum Beispiel eine behördliche Anweisung zur „Bekämpfung von Raupen und Sperlinge“ von 1703, die sich außer in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek nur noch in der Forschungsbibliothek Gotha befindet.

Verordnung zur Bekämpfung von Raupen und Sperlingen (1703), Sachsen-Weimar, Herzog, Wilhelm Ernst und Sachsen-Weimar, Herzog, III., Johann Ernst
Aber auch das 18. Jahrhundert hatte schon Unterhaltungsliteratur zu bieten. Zum Beispiel das 1799 erschienene Werk „Ritter Guido von Suhla oder Das warme Händchen Uraninens – Sagen aus der Feenzeit“. Der Verfasser dieses knapp 170 Seiten starken Werkes ist nicht bekannt. Das einzige nachgewiesene Exemplar befindet sich in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Ritter Guido von Suhla oder Das warme Händchen Uraninens (1799), Verfasser unbekannt
Beide genannten Titel gehören zu einer Auswahl von vorerst 3.000 Werken, die an der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in einer ersten Projektphase katalogisiert und digitalisiert werden.
Immer wieder lassen sich hierbei spannende, merkwürdige, längst vergessene und lesenswerte Bücher entdecken. Aber angesichts der 2.500 Titel, die von den Kolleginnen und Kollegen noch bis Ende 2022 zu bearbeiten sind, bleibt wenig Zeit zum Lesen. Wer gern in das 18. Jahrhundert eintauchen mag, für den bietet sich hier eine fantastische Gelegenheit.
So lässt sich festhalten, dass die literarischen Erzeugnisse dieses Zeitalters sicherlich nicht alt im inhaltlichen Sinne sind, sondern klassisch und immer noch aktuell. Das würde auch Goethe gefallen. Und Schiller mit Sicherheit auch.
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