Anna Amalias Große Herkulanerin
Zu den imposantesten Antikenreproduktionen der Museen der Klassik Stiftung Weimar gehört die Große Herkulanerin im Wittumspalais, dem einstigen Witwensitz der Herzogin Anna Amalia. Dort dominiert der historische Gipsabguss der überlebensgroßen römischen Plastik die Ausstattung des ersten der Roten Salons der Herzogin.
Derzeit ist das Standbild bis zum 2. Juli 2017 in die Ausstellung »Winckelmann. Moderne Antike« im Neuen Museum Weimar umgezogen und dient dort als Ausstellungsobjekt stellvertretend für seine Vorlage, die römisch-kaiserzeitliche Marmorstatue der Großen Herkulanerin in der Dresdner Antikensammlung.
Die Besichtigung dieser und zwei weiterer Gewandstatuen – 1711 im ehemaligen römischen Theater von Herkulaneum aufgefunden und 1736 vom sächsischen Kurfürsten Friedrich August III. erworben – sollte für den jungen Winckelmann zum Schlüsselerlebnis werden. In seiner in Dresden 1755 veröffentlichten Abhandlung »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« widmete er ihnen mehrere Seiten und machte sie so publik. Winckelmann interpretierte die große Frauenstatue mit dem über den Kopf gezogenen Gewand ̶ wie übrigens auch die beiden kleineren mit unbedecktem Kopf ̶ als Vestalin, Pristerin der Vesta, Göttin des heiligen Herdfeuers.
Die Bezeichnung Herkulanerinnen wurde erst nach 1798 üblich. Kordelia Knoll ermittelte den mehr als 10 Jahre in Weimar tätigen Philologen und Archäologen Karl August Böttiger als Urheber. In seiner Beschreibung »Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-Beleuchtung gesehen den 25. August 1798« verwendete Böttiger für die Statuen die Bezeichnung »hochgefeierte Ercolanenserinnen«, in deren Folge sich ihr am Fundort orientierter Name etablierte.
20 Jahre nach Winckelmanns Veröffentlichung ermöglichten die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt breiten adligen und bürgerlichen Kreisen eine Verknüpfung der theoretischen Diskurse mit eigener Anschauung durch das Angebot preiswerter dreidimensionaler Reproduktionen antiker Skulpturen. Von der Großen Herkulanerin boten im mitteldeutschen Raum seit den 1780er Jahren Unternehmer wie der Leipziger Kunsthändler Carl Christian Heinrich Rost, der Weimarer Hofbildhauer Martin Gottlieb Klauer in seiner Toreutica-Fabrik und das Gräflich-Einsiedelsche Eisenwerk zu Mückenberg bei Lauchhammer Kopien in unterschiedlichen Materialien an. Am Beginn dieser Entwicklung steht der Abguss der Großen Herkulanerin aus dem Wittumspalais in Weimar.
Entgegen bisherigen Annahmen hat die Fürstin das Standbild nicht selbst erworben. Es stammt auch nicht, wie häufig vermutet, aus der Werkstatt des Weimarer Hofbildhauers Martin Gottlieb Klauer. Vielmehr handelte es sich um ein Geschenk von Herzog Carl August an seine kunstliebende Mutter zu ihrem 42. Geburtstag, was ein Eintrag in den Schatullrechnungen Carl Augusts im Thüringischen Hauptstaatsarchiv belegt. Dort ist festgehalten, dass der Herzog 1781 einen Betrag in Höhe von 103 Reichsthalern
»für die Gyps Statue der großen Vestale«
aus seiner Schatulle an den Kunsthändler Rost in Leipzig überweisen ließ.
Ausdrücklich vermerkt ist in dem Dokument der Zweck des Kaufs:
»womit Seren. Durchl. Frau Herzogin Mutter ein Präsent gemacht«.
Über das Geschenk schrieb die Fürstin dem befreundeten Schriftsteller Johann Heinrich Merck am 6. November 1781 nach Darmstadt:
»Vor einigen Tagen habe ich den ersten Ausguss der großen Vestalin erhalten, die zuerst mit in H e r c u l a n u m gefunden und jetzt in Dresden steht. Der Ausguß ist vortrefflich gerathen, die Kenner vergleichen sie mit der großen Flora in Mannheim.«
Beide Quellen sind ein Indiz für die besondere Affinität Anna Amalias zu den Skulpturen des Altertums. Wir können davon ausgehen, dass Anna Amalia die aktuellen kunsttheoretischen Diskurse vertraut waren, denn in ihrem Besitz befanden sich nicht nur wichtige Publikationen Winckelmanns, sondern auch 29 Briefe von seiner Hand. Der Gelehrte hatte sie von 1752 bis 1767 an Hieronymus Dietrich Berendis, den ehemaligen Schatullverwalter der Herzogin geschrieben. Diese Briefe inspirierten Goethe später zur Herausgabe der Schrift »Winckelmann und sein Jahrhundert«.
Das Wissen der Herzogin um praktische Fragen der Herstellung von Antikenkopien dürfte durch ihren engen künstlerischen Austausch mit dem Malerbildhauer, Leipziger Akademiedirektor und Winckelmann-Freund Adam Friedrich Oeser vermehrt worden sein. Mit ihm besuchte sie im Oktober 1780 den Mannheimer Antikensaal; gemeinsam bewunderten sie dort auch die oben erwähnte Flora Farnese.
Ein Indiz dafür, dass Carl August mit seinem Geschenk keiner willkürlichen Idee folgte, sondern vielmehr eine Neigung der Herzogin bediente, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Herzogin seit 1774 mehrfach Abgüsse antiker Skulpturen erworben hatte. Am 6. Mai 1774 war das Weimarer Schloss durch einen Brand unbewohnbar geworden, was Anna Amalia im Winter des selben Jahres zum Kauf des Palais an der Esplanade bewogen hat; wenige Monate zuvor nutzte sie erstmals die Gelegenheit von fahrenden Händlern aus Italien, den Fratelli Ferrari, Gipsabgüsse zu kaufen.
Zu diesen Erwerbungen gehörten die Statue des Laokoonvaters, die Büsten des Apoll vom Belvedere, von Homer, von Diogenes und der Kopf einer Venus. Im Jahr 1775 kaufte Anna Amalia von Carl Ludwig von Knebel einen Abguss des Betenden Knaben und 1776 erwarb sie wiederum von den Ferraris eine Nachbildung der Venus Medici. Nach fünf Jahren kam dann das Geschenk ihres Sohnes, der Abguss der Großen Herkulanerin hinzu.
Die Gipsreproduktionen boten für die Herzogin die Möglichkeit, sich vermittels eigener sinnlicher Wahrnehmung der modernen klassizistischen Ästhetik anzunähern. Auch während der Italienreise von 1788 bis 1790 waren es besonders die antiken Skulpturen, die sie zu emphatischen Gefühlsäußerungen – nachzulesen in ihrem Reisejournal – anregten.
Wie und wo die Herzogin die Gipsabgüsse – darunter mindestens vier originalgroße Statuenreproduktionen – im ersten Jahrzehnt des Wohnens im Wittumspalais aufstellen ließ, ist nicht bekannt. Da zu keinem Zeitpunkt von einem Antikenkabinett Anna Amalias gesprochen wurde, muss angenommen werden, dass sie Teil der klassizistischen Raumausstattung waren.
(Einen weiteren frühen Abguss lieferte Rost an die archäologischen Sammlungen in Göttingen. Unter der Leitung von Prof. Martin Langner erforscht das Campuslabor 3D Digitalisierung der Georg-August-Universität Göttingen nun, ob es sich in beiden Fällen um historische Gipsabgüsse handelt.)
In mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist an Anna Amalias Mitteilung an J. H. Merck, dass es sich bei der Großen Herkulanerin um den »ersten Ausguss« handelte. Zuvörderst ist es ein Hinweis auf die hohe Qualität und spezifische Originalität der Abformung. Darüber hinaus ist die Äußerung ein früher Beleg für eine bedeutende Angebotserweiterung der Rostischen Kunsthandlung. Der Leipziger Kunsthändler Carl Christian Heinrich Rost hatte vom sächsischen Kurfürsten Anfang der 1780er Jahre das Privileg erhalten, 25 Hauptwerke der Dresdner Antikensammlung abzuformen.
Der Weimarer Hof verfügte offensichtlich über genaue Informationen zu diesem Vorgang, denn erst 1782 veröffentlichte Rost einen Katalog, in dem er die Große Herkulanerin offerierte. Jahre später nahmen dann die Eisengießerei Lauchhammer (1788) und G. M. Klauer in Weimar (1792) sie in ihre Angebotskataloge auf.
Bis heute hat sich die Bezeichnung der Statue als »Große Herkulanerin« eingebürgert, doch bei ihrem Urtyp handelte es sich, wie durch neue Forschungen nachgewiesen werden konnte, um eine Porträtstatue einer wohlhabenden Bürgerin, deren Entstehung in die Epoche der spätklassischen griechischen Kunst der 20er Jahre des 4. Jh. v. Chr. fällt.
Die Ausstellung »Winckelmann. Moderne Antike« ist vom 7. April bis 2. Juli 2017 im Neuen Museum in Weimar zu sehen.