DDR – Land der kleinen Träume oder wie ich den Mauerfall verpasste
Dass die Mauer jemals fallen würde, war im Jahr 1988 außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Trotz Kindheit und Jugend in einem aktiven Pfarrhaushalt, träumte ich nie von Wende, Mauerfall oder gar einem demokratischen politischen System. In meiner Familie lernte ich, den Alltag aufrecht zu bewältigen. Zivilcourage im Alltag zu leben. Unangepasst sein hieß, seine eigene Meinung vertreten, ein T-Shirt mit West-Logo in der Schule zu tragen, mit Hilfe der Eltern am Ende der 9. Klasse dem Wehrerziehungslager zu entkommen und stattdessen mit den Mädchen zur Zivilverteidigung in der Schule bleiben.
Eine Plastiktüte von Aldi zog unausweichlich einen Termin beim Schuldirektor nach sich, aber das Ziel war, sich davon nicht kleinkriegen zu lassen.
Als Pfarrerssohn gehörte ich ohnehin zur Gruppe der Verdächtigen, daher erfüllten meine alltäglichen Aufstände zweifelsohne die Erwartungen der Linientreuen und trotzdem gehörte Mut dazu und der Wille, im Kleinen Dinge zu ändern. Ohne den Rückhalt meiner Familie hätte ich die vielen Drangsalierungen und Kränkungen als Teenager sicher nicht ertragen. Sie können ein Kind brechen oder stark machen.
Glücklicherweise bewirkte es bei mir Letzteres. Ich ließ mich mit gerade 18 Jahren sogar im Herbst ´88 zum Grundwehrdienst einziehen. Man hatte mir in Aussicht gestellt, mich im Singe-Club des Thomanerchores auf mein lange gewünschtes Gesangsstudium vorbereiten zu können, was ohne Wehrdienst aussichtslos gewesen wäre. Als ich in Weißenfels ankam, war jedoch alles anders. Statt Singe-Club musste ich die reguläre militärische Grundausbildung absolvieren und anschließend als Funker zur Artillerie. Die Thomaner sah ich nur von weitem. Man hatte mich bewusst getäuscht.
Damit einher ging ein täglicher Spießrutenlauf bei den Vorgesetzen. So hätte es immer weiter gehen können, bis ich in der Nacht zum 8. Oktober 1989, mit über 20 weiteren Grundwehrdienstleistenden, in das Militärgefängnis Weißenfels abgeführt wurde. Alle hatten einen ähnlich »verdächtigen« Hintergrund, wie ich. Sonst gab es keine großen Gemeinsamkeiten.
Vor den vergitterten Fenstern wurde mit Schlagstock und Schild der militärische Einsatz in Leipzig trainiert.
Wir waren über zwei Monate komplett isoliert und litten nicht nur unter dem Kontaktverbot zur Außenwelt, sondern mussten auch die Enge in einer 2-Mann-Zelle ertragen, die wir mit besagten 20 Mann belegten. Knapp zwei Monate, bis zum 19. Dezember 1989, konnten wir weder liegen noch richtig sitzen. Man wechselte sich ab, so gut es ging. Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichten, spekulierten, was draußen vor sich ging.
So ging der 9. November – der Tag, an dem die friedliche Revolution ihr Ziel erreichte – an mir vorbei und ich erfuhr vom Mauerfall erst nach meiner Haftentlassung. Vorerst wurden wir zum Arbeitseinsatz in die Hallenser f6-Zigarettenfabrik gebracht. Nach dem Motto »NVA in die Volkswirtschaft« sollte die marode DDR-Wirtschaft gerettet werden. Ein letztes Aufbäumen des sterbenden Staates. Was für ein Unsinn! Am Mittagstisch erzählten die verbliebenen Arbeiter von ihren Wochenendausflügen zu Freunden und Verwandten nach Westberlin, München oder Hamburg.
Nach erstem ungläubigen Staunen wurde mir klar, dass ich die wichtigste, mutigste und aktivste Phase des Umschwungs verpasst hatte. Ohne, dass ich etwas davon mitbekommen hatte, war die Mauer gefallen! Heimlich machte ich mich in der Fabrik auf die Suche nach einem Münzfernsprecher und konnte seit Monaten endlich wieder mit meinen Eltern sprechen.
Sie hatten vergeblich nach mir gesucht.
Mein Vater sogar war bis zum Verteidigungsministerium in Berlin vorgedrungen, jedoch ohne Erfolg. Sie hatten sich große Sorgen gemacht und endlich war der verlorene Sohn wieder aufgetaucht. Sie erzählten mir ausführlich von den großen Friedensgebeten in der Weimarer Jakobskirche, der ersten Demonstration auf dem Platz der Demokratie und ihrer Reise am 10. November nach Westberlin zu meinem ältesten Bruder. Er hatte erst im Sommer ´89, nach jahrelangen Schikanen, ausreisen dürfen. Wir konnten die Freude kaum fassen und weinten vor Glück am Telefon.
Trotz dieser unerhörten neuen Freiheit, musste ich wieder zurück in die Kaserne und zur Arbeit bei f6. Jedoch hatten ich und meine Kameraden mit der NVA abgeschlossen und wir verweigerten uns dem letzten Relikt der alten Ordnung.
Es herrschte die absolute Anarchie, Stühle und Schränke flogen aus den Fenstern.
Die Offiziere wussten nicht mehr aus noch ein, als wir schließlich unsere frühzeitige Entlassung aus dem Armeedienst forderten. Mitte Januar und damit drei Monate vor dem offiziellen Ablauf des Wehrdienstes wurde ich dann in Unehren entlassen. Es war eine große Genugtuung!
Wieder zu Hause angekommen haben wir nächtelang diskutiert und gefeiert. Jetzt begann für mich die große Freiheit! Ich reiste zu Freunden und Verwandten, arbeitete in München für den Bayerischen Rundfunk, verdiente mein erstes Westgeld und fuhr damit nach Istanbul. Ich genoss mein Leben in vollen Zügen und ging im Herbst 1990 schließlich und endlich zum Gesangstudium an die Leipziger Musikhochschule … doch das ist eine andere Geschichte der Geschichte.