Documenta. Moderne Kleinantike
»[…] heute scheißt schon jeder Kleinbürger auf Marmor,
die Toiletten sind draus verfertigt.«
Bertolt Brecht
»Du fährst nach Athen? Bestimmt zur documenta!« Ja, auch ich, bestimmt zur documenta. Das Gefühl in Athen: »In Brazil they […] have ›favela tours‹ […] in which tourists experience ›life in the favela‹. This is not too different from how most Greeks see documenta 14.« Dieses Zitat stammt von dem früheren griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis – und entspricht durchaus dem Eindruck, der mich in Athen erwartet.
Als Adam Szymczyk im November 2013 den Posten des künstlerischen Leiters der documenta 14 zugewiesen bekommt, schlägt er vor, die Ausstellung Learning from Athens zu nennen, sie zunächst in der griechischen Hauptstadt stattfinden zu lassen und 100 Tage später traditionsgemäß in Kassel. In Athen interessiere ihn, so eine öffentliche Bemerkung seinerseits, in keiner Weise die lokale Kunstszene, sondern ausschließlich die Stadt. Das Resultat dieser Überlegung: Die documenta kommt vorgeblich nach Athen, um Ausgaben zu machen und saugt dabei jede existierende Quelle für die lokale Kunstszene in sich auf. Geschichte wiederholt sich: Kolonialisierung, schon wieder.
Vor 200 Jahren befreite sich Griechenland von der jahrhundertelangen osmanischen Besatzungskraft. Ihr erster König? Otto I., ein Bayer. Aus den Händen der einen in die anderen. Deutschland entschied damals – ironischerweise ganz nach Winckelmann’schem Freiheitsethos – »alles in die Freiheit zu holen«. Wenn die Winckelmann-Ausstellung in Weimar sich die Frage stellte: Was haben wir von Winckelmann gelernt?, dann kann die Antwort keineswegs »die documenta-14-Devise« lauten. Denn Athen entspricht auch heute noch immer nicht dem Winckelmann’schen Freiheitsideal, unter dessen Bedingungen angeblich die schönste aller Künste möglich ist. Nach der Kuratorin iLiana Fokianaki werden sowohl die Stadt als auch ihre Geschichte von der documenta instrumentalisiert:
»A national identity […] has been built by fetishizing ancient Greece. I found references to this glorified past […] in many of the opening speeches and curatorial texts […]. It reminded me vividly of the eighteenth-century Grand Tour, with all the Anglo-Saxons coming to Italy and Greece to find the roots of Western civilization […].«
Die im Rahmen der documenta 14 gezeigte Installation The Disasters of War, Metics Akademia (2017) des spanischen Künstlers Daniel García Andújar (geb. 1966) präsentiert eine Antikenperzeption, welche sowohl die zeitgemäße Wiederaufnahme Winckelmanns, als auch die ›fetischisierte‹ und ›kolonialisierte‹ Antike widerspiegelt. Die Installation besteht aus zahlreichen, puppengroßen antiken Statuen (wie jener des Herkules Farnese oder des Faustkämpfers vom Quirinal), die mithilfe 3D-Druckern produziert wurden; einer Bilderserie, die antike Statuen mit Rassenklassifizierung, faschistischen und anorektischen Schönheitsidealen in eine Reihe stellt; und dem Abformmaterial für die Produktion des Gipsabgusses einer überlebensgroßen Statue.
Die ›gedruckten‹, winzigen Statuen verspotten den Fleiß, der hinter einem erhabenen Marmor steckt. Die Kontur eines anorektischen Körpers kontrastiert drastisch mit jener einer üppigen Venus. Die in ihrer Abformmaterial steckende Marmorstatue ist alles andere als frei.
Der im Titel vorhandene metic, zu Deutsch Metöke, war im antiken Griechenland ein ausländischer Bewohner Athens, jemand, der nicht die Staatsbürgerschaft und somit auch nicht das Bürgerrecht des griechischen Stadtstaates bzw. der Polis besaß (grch. métoikos: metá, neben, und oîkos das Haus oder das Heim). Im heutigen Athen stiehlt der eigentliche Metöke documenta der lokalen Kunstszene das Bürgerrecht. Metöke im Sinne des Kunstlaien ist aber auch ein jeder, der Andújars Installation anschaut und aus Gründen von fehlender akademischer Bildung keinerlei Verständnis dafür aufweisen kann. Winckelmann – und vermutlich auch der antike Athener Bürger – betrachtete die Statue eines Apoll und war von ihrer Beschaffenheit berührt. Der Betrachter von Andújars Installation ist nicht sinnlich erregt von dessen Oberfläche oder Kontur. Die Oberfläche der Statuen ist hier Mittel zum Zweck: Sie soll den Verstand anregen. Es findet eine Verschiebung der Funktionalität der Form statt, vom Sinnlichen ins Geistige.
Die minutiös geordnete Bilderserie erinnert an Winckelmanns Katalogisierung der Gemmensammlung des Grafen von Stosch. Im Neuen Museum in Weimar war Winckelmanns Katalogisierungsmethode in einem Gipsimitat wiedergegeben. Die Kuratoren hatten die Gemmen eingeteilt in die Rubrik Fühlen. Fühlen heißt hier: Befühlen. Aber auch Erleben. Winckelmanns Beschreibung des Torso vom Belvedere ist eine durchaus sinnliche. Sie lädt den Betrachter dazu ein, sich emotional auf die Statue einzulassen. Oberfläche fühlen? Das können wir heute nicht mehr. Taktilität ist nicht Teil des Museumsbesuchs. Unser Gefühl bleibt oberflächlich.
Dieser und untenstehende Beiträge sind im Rahmen eines Seminars von Dr. Charlotte Kurbjuhn am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. Im Seminar ging es anlässlich der Winckelmann-Ausstellung in Weimar um die Verbindung von Archäologie und Literatur im Hinblick auf ihre Ausstellbarkeit. Bestandteil war auch ein Besuch der Ausstellung in Weimar.