Mit Bleistift zeichnete Bruno Riemer die Eckartsburg in Eckartsberga und schickte sie an Goethes Enkel Walther. Bruno Riemer an Walther von Goethe, 7. Oktober 1831, S. 1, Detail (GSA 37/XXVIII,1,1, St. 1).

Gestrandet in Eckartsberga: Quarantäne in der Goethezeit

von Héctor Canal

Wochenlang in Quarantäne – auch vor 190 Jahren mussten Menschen diese Ausnahmesituation durchstehen. So auch Goethes enger Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer, der während der Cholera-Epidemie verzweifelte Briefe aus Eckartsberga schrieb.

Die schreckliche Choleraepidemie, die sich aus Asien über Russland nach Westen ausbreitete und deren Welle Deutschland im Jahr 1831 erreichte, traf die unvorbereitete Bevölkerung hart. Die Staaten griffen zu strengen Maßnahmen, um die Epidemie einzudämmen, deren Ursachen und Verbreitung noch nicht wissenschaftlich ergründet waren: Erst Jahrzehnte später wurde das Bakterium „Vibrio cholerae“ als Krankheitserreger identifiziert.

Auch das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wurde von der Seuche heimgesucht. Die Regierung führte schärfere Grenzkontrollen ein. Nicht direkt von der Krankheit, aber von den Maßnahmen betroffen waren Goethes enger Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer und dessen Familie: seine Frau Caroline und sein 1817 geborener Sohn Bruno.

Im August 1831 brachte Riemer seinen Sohn, der eine „unbegreifliche Neigung zum Militär gefaßt“ hatte, in ein preußisches Kadettenhaus nach Potsdam. Bald darauf wurde die Einrichtung von der Epidemie erfasst, und so war Caroline Riemer im September gezwungen, ihr Kind schnellstmöglich wieder abzuholen. Die fluchtartige Rückreise wurde zur Odyssee.

Nach 20 Tagen Quarantäne in Wittenberg erhielten zwar Caroline und Bruno Riemer sogenannte Legitimationskarten (Gesundheitspässe), ihnen wurde jedoch – zu ihrem Erstaunen – die Einreise in das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach verwehrt. Sie mussten in der 25 Kilometer nordöstlich von Weimar gelegenen Grenzstadt Eckartsberga ausharren, die zur preußischen Provinz Sachsen gehörte.

Riemer eilte zu seiner gestrandeten Familie, um ihnen in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Im ausführlichen Brief an Goethe vom 2. Oktober 1831 ließ er seinem Unmut über die willkürlichen Maßnahmen des Weimarer Staats-Ministeriums freien Lauf, unter denen besonders seine Frau litt:

Friedrich Wilhelm Riemer an Goethe, 2. Oktober 1831, S. 1 (GSA 28/746, St. XV).

„Diese Masregel, welche ihr den Eintritt in das Großherzogthum und die Stadt Weimar untersagt, […] die sich auch aufs nichts weiter gründet als auf eine leere Ombrage, auf ein Geträtsch des Publicums,  auf die völligste Dunkelheit derjenigen die von Amtswegen in dieser Sache unterrichteter seyn sollten, könnte einem, wenn man nicht das Opfer derselben wäre, nur lächerlich vorkommen, wie sie denn auch völlig insoutenable ist, u mehr einer Chicane als gründlichen Vorsorge für das allgemeine Beste ähnlich sieht.  Denn warum ließ und läßt man doch Fremde und Reisende, die unmittelbar von Berlin kommen, warum solche die mit Cholera-Kranken in Contact gerathen, nicht nur durch das Großherzogthum passiren, und Tagelang in den Weimarischen Gasthöfen sich aufhalten? […] Warum macht man nur mit den Frauen, und namentlich mit der meinigen, da es uns am empfindlichsten trifft, diese Weitläuftigkeiten und Umstände, ohne von der Nothwendigkeit derselben andre Motive als die nicht zu erweisende Ansteckungsmöglichkeit nach so langer Frist, anzugeben?“

Verärgert über die erhebliche finanzielle Belastung für einen dreiwöchigen Gasthof-Aufenthalt in Eckartsberga hatte Riemer auch ein offizielles Protestschreiben an den zuständigen Weimarer Minister adressiert. Zugleich betonte er Goethe gegenüber, dass er keine Sonderbehandlung wolle. Vielmehr frustrierten ihn die „Willkührlichkeit“ und „Rücksichtslosigkeit“ der Maßnahmen.

Vor allem ärgerten ihn die vermeintlichen Doppelstandards, die angelegt wurden; Bedienstete des Hofmarschallamtes und der französische Gesandte durften ohne Quarantäne über Eckartsberga ins Großherzogtum einreisen. Riemer hegte den Verdacht, dass die Einschränkungen nur für bestimmte Teile der Bevölkerung gelten würden und dadurch gänzlich unwirksam seien: „Es ist thöricht einem die Thüre zu verschließen, wenn neben her noch aller Pforten im Gange sind.“

Goethe versuchte, in seinem Antwortbrief vom 4. Oktober 1831 Riemer zu besänftigen. Dem Brief schloss Goethe einen Brief seiner Enkelkinder bei, da der älteste, der 1818 geborene Walther mit Bruno Riemer befreundet war. Riemer bedankte sich am 7. Oktober für Goethes „trostreiche Zuschrift“ und „die freundliche Theilnahme Ihrer Enkelchen an dem Befinden meines Bruno“.

Goethes Rat folgend – „das junge Volk erheitert sich am besten untereinander“ –, schloss er seinem Brief eine schöne Antwort Bruno Riemers an Walther von Goethe bei. Über dem sorgfältig mit Tinte beschriebenen Text zeichnete Bruno mit Bleistift die Eckartsburg.

Bruno Riemer an Walther von Goethe, 7. Oktober 1831, S. 1 (GSA 37/XXVIII,1,1, St. 1)

Im unbekümmerten Ton äußerte Bruno seine Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen:

Was das Räuchern anbetrift, so habe ich allerdings viel davon auszustehen gehabt doch ohne sonderlich an Schaden an Seele und Leib. Das Verfahren dabei wie überhaupt die ganzen Reiseabentheuer sollen uns hoffentlich vielen Stoff zur Unterhaltung gewähren.”

Riemer seinerseits berichtete Goethe, dass er „eine sehr überraschende Nachricht“ von der Weimarer Regierung erhalten habe, die ihn „nicht nur ein baldiges Ueberstehen dieser drückenden Contumaz, sondern auch eine ganz unerwartete Ausgleichung von Noth und Schaden erhoffen“ lasse: die Erteilung des Hofratstitels. Riemer bedankte sich für Goethes Mitwirkung bei dieser Ernennung.

Friedrich Wilhelm Riemer an Goethe, 7. Oktober 1831, S. 4 (GSA 28/746, St. XVI).

Die Geschichte nahm einen glücklichen Ausgang: Nachdem die Familie am 12. Oktober gesund in ihr Weimarer Quartier zurückkehren konnte, wurde Riemer zwei Tage später das Ernennungsdekret zum Hofrat ausgehändigt.

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Info: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Friedrich Wilhelm Riemer ist als historisch-kritische Edition digital zugänglich.

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