Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
Goethe und die Gall'sche Schädellehre
Zwei Objekte aus dem Sammlungsnachlass Goethes geben Zeugnis von den spekulativen Anfängen der Hirnforschung, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in der Mitte Europas ihren Ausgang nahm: ein beschrifteter menschlicher Schädel und Goethes 1807 in Gips gegossene Lebendgesichtsmaske.
Der Protagonist, um den sich die Ereignisse entwickelten, war der Mediziner Franz Joseph Gall, der erstmals im Juli des Jahres 1805 in Halle mit Goethe zusammentraf und bei diesem einen prägenden Eindruck hinterließ. Gall hatte sich nach seinem Medizinstudium in Straßburg und Wien in der österreichischen Metropole niedergelassen und dort seit 1796 mit einer von ihm entwickelten Schädellehre die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf sich gezogen. Er identifizierte die Großhirnrinde als den anatomischen Ort der mentalen Fähigkeiten und psychischen Ausstattung des Menschen, postulierte 27 Geistes- und Gemütseigenschaften wie Scharfsinn, Witz, Erziehungsfähigkeit oder Wissbegierde. Seine These besagte, dass je nach Ausbildung dieser Eigenschaften bei einem Individuum auch dessen Gehirn geformt sein sollte. Die durch Übermaß oder Mangel einer Eigenschaft an der Oberfläche des Gehirns auftretenden Beulen beziehungsweise Vertiefungen würden sich auf das Schädelskelett übertragen.
Gall legte sich eine eigene Schädel- und Abguss-Sammlung zu und nutzte jede Gelegenheit, die Köpfe Lebender zu begutachten. Seine Vorlesungen hielt Gall in den Räumen seiner Wiener Privatwohnung. Sie hatten großen Zulauf und fesselten sein Publikum, das keineswegs nur aus Medizinern bestand, sondern ebenso aus interessierten Laien in großer Zahl.
Goethe kannte Galls Theorie. Am 1. Juli 1805 erreichte ihn etwa die „Darstellung der Gallschen Gehirn- und Schädellehre“ von Christian Heinrich Ernst Bischof. Noch im selben Monat reiste er zu Galls „Schädelkollegium“ nach Halle, wo er sich mit ihm austauschte. „Galls Vortrag durfte man wohl als den Gipfel vergleichender Anatomie anerkennen“, urteilte Goethe.
Einige Wochen später erhielt er von Gall einen nach dessen Lehre beschrifteten Schädel, der sich noch heute im naturwissenschaftlichen Sammlungsnachlass Goethes befindet. Auch Goethes in Gips gegossene Lebendgesichtsmaske ist erhalten. Gall hatte den Dichter am 16. Oktober 1807 in Weimar besucht, um sich dessen „prächtigen, herrlichen Kopf abdrücken“ zu lassen. „Alle Welt lacht mich aus“, schrieb Gall an Bertuch, „daß ich ihn nicht habe; ich will recht sanft mit ihm umgehen.“
So sanft scheint die Produktion der Lebendmaske – Modelleur des Abgusses war der junge Weimarer Hofbildhauer Karl Gottlieb Weisser – dann doch nicht gewesen zu sein. Gegenüber seinem Sekretär Friedrich Theodor David Kräuter gesteht Goethe, es sei „keine Kleinigkeit, sich solchen nassen Dreck Zeug auf das Gesicht schmieren zu lassen“.
Galls Schädellehre war zunehmend der zeitgenössischen Kritik ausgesetzt und nach seinem Tod geriet das Thema mehr und mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Seine von der äußeren Gestalt ausgehende empirische Methode zeigt durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit der von Goethe in dieser Zeit entwickelten Morphologie. Allerdings erwies sich Galls Prämisse von einem nach der Form des Gehirns gestalteten Schädel als nicht tragfähig. Die von ihm postulierten und auf der Schädeloberfläche beziehungsweise der Großhirnrinde lokalisierten Eigenschaften entsprangen zufälligen Beobachtungen, aus denen übereilt Verallgemeinerungen folgten.
Galls Bedeutung für die Neurowissenschaften liegt trotz aller spekulativen Anteile in dem Bemühen, Hirnfunktionen zu lokalisieren. Auch wenn die Forschungsmethoden heute grundlegend andere sind, so bleibt doch das Körper-Geist-Problem bestehen, also die Frage, wie sich die mentalen Zustände, also das, was wir Geist, Bewusstsein, Intellekt nennen, zu den physischen Zuständen, also dem Körper, verhalten. Wie zu Goethes und Galls Zeiten wird sie noch heute kontrovers diskutiert.
Dieser Blogbeitrag ist eine Kurzform des Texts „Goethe und »die Gallische wunderliche Lehre«“ von Gisela Maul aus dem Katalog zur Ausstellung „Abenteuer der Vernunft – Goethe und die Naturwissenschaften um 1800“, herausgegeben von Kristin Knebel, Gisela Maul und Thomas Schmuck, erschienen beim Sandstein Verlag.
Bis zum 16. Februar 2020 präsentieren wir erstmalig Goethes umfassende naturwissenschaftliche Sammlung. Zwischen den Diskursen der sich formierenden Naturwissenschaften um 1800 und heutigen Fragestellungen entwickelt sich ein spannungsreicher Themenparcours mit innovativen Medienstationen.
Zur Ausstellung „Abenteuer der Vernunft”