Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹
Am 25. Juni 2015 spricht W. Daniel Wilson im Goethe- und Schiller-Archiv über »Die ›freundschaftliche‹ Zensur der erotischen Dichtungen Goethes von Schiller bis Sophie von Sachsen-Weimar«. Kürzlich erschien Wilsons Buch »Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹«. Ein Ausschnitt…
»April 1885. Der letzte Goethe, Enkel Walther, stirbt und vermacht die Papiere seines illustren Großvaters der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar. Alle Welt atmet auf: Der literarische Nachlass, über den die Brüder Goethe wie Argusse vor den neugierigen Augen der Öffentlichkeit gewacht hatten, wird der Forschung zugänglich gemacht. Alle Texte, auch von Goethe nicht veröffentlichte, werden in einer großangelegten Druckausgabe erscheinen.
Alle Texte? Sophie, Patronin der Ausgabe, lässt die Papiere sofort in Körben und Kisten aus dem Goethe-Haus ins Weimarer Stadtschloss tragen. Mit schwedischen Handschuhen nimmt sie die alten Manuskripte sorgfältig, aber auch argwöhnisch in die Hände.
Nicht nur der Staub, den diese aufwirbeln, stört sie. Sie möchte verhindern, dass Unangenehmes gedruckt wird. Die Prüde erschrickt über einige unveröffentlichte Dichtungen, die sie in verschlossenen Umschlägen mit der Aufschrift »Secretanda« (Geheimzuhaltendes) findet. Dabei sind vor allem Entwürfe zu den »Römischen Elegien« und den »Venezianischen Epigrammen«, die nicht den Weg in die von Goethe publizierten Fassungen fanden, aber auch das Gedicht »Das Tagebuch« und obszöne Skizzen zur Walpurgisnachtszene in »Faust«. Sophie liest einige davon dem Zirkel ihrer Hofdamen vor, was diese »angenehm unterhalten und vornehm entrüstet hat«.
Irgendwann macht sie sich dann an die Arbeit, vermutlich mit Hilfe der Damen: Mit scharfem Messer, Radiergummi und Schere werden ›anstößige‹ Stellen aus drei Manuskripten zu den »Venezianischen Epigrammen« entfernt.
Diese Anekdote mag teilweise zutreffen; die ganze Wahrheit ist sie nicht. Ob Sophie überhaupt an den Manuskripten abschabte oder die Schere ansetzte, ist fragwürdig. Auch ihre Motive, als sie die Publikation der »Secretanda« verbot, gingen weit über ›Prüderie‹ hinaus.
Das Buch »Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹« erzählt die Geschichte einer ›sanften‹ Zensur, die nicht von einer staatlichen Behörde ausging, und versucht, die Grundsätze herauszuarbeiten, die sie leitete, sowie die Folgen dieser Eingriffe für das Verständnis Goethes. Das Thema ist nicht politische Frechheit, sondern erotische und religiöse, die eng mit einander verbunden sind.
Goethe wurde auf diese ›freundschaftliche‹ Weise immer wieder zensiert: von den 1790er Jahren, als seine Freunde Johann Gottfried Herder und Herzog Carl August von Weimar, dann sein Herausgeber Friedrich Schiller Bedenken anmeldeten, bis wenigstens 1915, als alle noch verfügbaren Texte endlich gedruckt wurden. Heute noch ist ein verzerrtes Goethebild das Ergebnis dieser Zensur, die vor einem runden Jahrhundert endete.«