Dora Wibiral und Dorothea Seeligmüller, um 1910. Fotograf unbekannt, © Klassik Stiftung Weimar

In Kunst und Liebe vereint

von Sabine Walter
aus dem Nietzsche-Archiv

Jenseits des üblichen Frauenbildes um 1900 behaupteten sie sich als selbständige Kunstgewerblerinnen. Im Nietzsche-Archiv Weimar sind nun die Arbeiten des außergewöhnlichen Paares Dorothea Seeligmüller und Dora Wibiral in der Ausstellung „Offene Freundschaften“ zu sehen.

 

Dorothea Seeligmüller (1876 Halle/Saale – 1951 Weimar) hatte gegen den Willen ihrer Eltern die private Mal- und Zeichenschule von Margarethe von Brauchitsch in Halle besucht und in Otto Eckmanns Berliner Atelier Malerei gelernt. Eckmann und von Brauchitsch waren beide für das Kunstgewerbe aufgeschlossen, das seit den 1890er Jahren mit neuen Formen und dem Anspruch auf Gleichstellung mit der freien Kunst europaweit Aufsehen erregte. Die Überwindung des rückwärtsgewandten Historismus war in aller Munde, und das bislang weniger beachtete Kunstgewerbe galt als Medium der Zukunft. Künstlerisch ambitionierte Frauen wie Dorothea Seeligmüller nutzten diese Entwicklung und schrieben sich an den aufstrebenden Kunstgewerbeschulen ein, da Frauen um 1900 an staatlichen Akademien nicht als Studentinnen akzeptiert wurden.

Ein herausragender Vertreter des „Neuen Stil“ war der belgischen Reformkünstler Henry van de Velde, der sich im Jahr 1900 in Berlin niedergelassen hatte. Von van de Veldes Ideen fasziniert, wechselte Dorothea Seeligmüller in dessen Atelier und damit zum kunstgewerblichen Gestalten. 1901 lernte sie in Berlin die ebenfalls in Malerei ausgebildete Dorothea Wibiral, genannt Dora (1876 Wien – 1955 Weimar) kennen und lieben.

Dorothea Seeligmüller, Entwurf für einen Automaten für verschiedene Waren, Federzeichnung auf Papier, um 1910. Foto: Sabine Walter, © Klassik Stiftung Weimar

Die beiden Frauen zogen 1902 nach Weimar und setzten ihr Studium bei Henry van de Velde fort, nachdem dieser vom Großherzog zum Berater für Industrie und Handwerk ernannt worden war. Nach einer gemeinsamen zweijährigen Weiterbildung in Schmuck- und Emailtechniken in Wien kehrten sie 1906 nach Weimar zurück und gründeten ihre private Werkstatt für Goldschmiedearbeit und Emailtechniken in van de Veldes im Aufbau befindlicher Kunstgewerbeschule. Statt Miete zu zahlen unterrichteten sie die dortigen Schülerinnen und Schüler. Erst drei Jahre später erfolgte eine bezahlte Anstellung als Lehrerinnen der Kunstgewerbeschule. Seeligmüller lehrte das Studium der Farben und ihre Anwendung auf verschiedene Materialien wie Textilien, Tapeten, Verglasungen oder Linol. Wibiral unterrichtete Ornamentik. In Anlehnung an van de Veldes Gestaltungsprinzipien ließen sich die beiden Frauen von Farb- und Formenkombinationen der Natur zu mehr oder weniger abstrakten Motiven inspirieren. Im Sinne van de Veldes sollten die dynamischen Linien ihrer Kunstobjekte bei der Betrachtung eine vitalisierende Wirkung entfalten.

Dorothea Seeligmüller, Entwurf für einen Deckel für eine Dose, Aquarell auf Papier, um 1910. Foto: Sabine Walter, © Klassik Stiftung Weimar

Die Großherzoglich-Sächsische Kunstgewerbeschule wurde im Kriegsjahr 1915 aufgelöst, wobei Seeligmüller und Wibiral ihre Werkstatträume behalten durften und als freie Kunstgewerblerinnen weiterarbeiten konnten. Seeligmüller fertigte die Entwürfe an, die Wibiral sodann kongenial ausführte. In den Jahren 1919/20 leitete Dora Wibiral zudem einen Kurs für Kalligraphie und Gestaltungstheorie am Staatlichen Bauhaus, das Walter Gropius in van de Veldes ehemaligem Schulgebäude gegründet hatte. Nachdem das Bauhaus die nach wie vor privat genutzten Werkstatträume von Seeligmüller und Wibiral wegen Eigenbedarf kündigte, verlegten die beiden Frauen ihr Atelier in die gemeinsame Wohnung in der Mansarde des heutigen Stadtmuseums Weimar. Das Gebäude beherbergte seit Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene Frauenbildungsinstitute. Nach Einzug der NSDAP-Gauleitung übersiedelten Wibiral und Seeligmüller um 1935 in die Atelierräume der „Preller-Villa“ an der Belvederer Allee 8.

Kostümfest am Bauhaus Weimar mit Dora Wibiral (mittig mit hellem Hut und Halskrause) neben Dorothea Seeligmüller (rechts außen mit Schultertuch) sitzend, um 1919. Fotograf unbekannt, © Klassik Stiftung Weimar

Trotz ihres unkonventionellen Lebensstils verkehrten die beiden Frauen in der gehobenen Weimarer Gesellschaft. Eheähnliche Beziehungen unter Frauen waren im Gegensatz zu männlicher Homosexualität zu keiner Zeit kriminalisiert. Als aktive Mitglieder des Frauennetzwerkes um Elisabeth Förster-Nietzsche nahmen Dorothea Seeligmüller und Dora Wibiral regelmäßig an den Veranstaltungen im Nietzsche-Archiv teil und gestalteten Huldigungsschriften für die Schwester des Philosophen oder in deren Auftrag. Förster-Nietzsche unterstützte die Kunstgewerblerinnen, indem sie von ihnen gebatikte Kissen und Tischdecken erwarb und in der Bibliothek des Nietzsche-Archivs prominent platzierte. Harry Graf Kessler notierte in seinem Tagebuch, dass „Frl. Vibreal“ vor „viel Hofgesellschaft“ Chopin und Dehmel vorgetragen habe.

Elisabeth Förster-Nietzsche in der von Henry van de Velde gestalteten Bibliothek des Nietzsche-Archivs mit der Batikgarnitur auf Rohseide von Dorothea Seeligmüller, 1920. Foto: Louis Held, © Klassik Stiftung Weimar

Mit Schmuck, Schalen, Knöpfen, Petschaften, Namensschildern, Grabplatten, mit bestickten oder gebatikten Decken, Kissen, Lampenschirmen und Taschen gestalteten Wibiral und Seeligmüller ästhetisch innovative Alltagsgegenstände für den modernen „Neuen Menschen“. Ihre Werke erzielten vor dem Ersten Weltkrieg Preise, waren bei internationalen Ausstellungen zu sehen, wurden in der Fachpresse gelobt sowie von namhaften Museen in Leipzig, Brünn, Wien, Graz und Weimar erworben. Heutzutage nahezu unbekannt, sind sie aktuell im Kontext von Henry van de Veldes Kunstgewerbeschule im Museum Neues Weimar und im Stadtmuseum Weimar zu sehen.

Die beiden Kunstgewerblerinnen gingen in der Kunst und im Leben einen eigenständigen Weg. In einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebend, hatten sie sich für eine selbstständige Erwerbstätigkeit und gegen das für höhere Töchter damals übliche Frauenbild und Ideal eines Hausfrauen- und Mutterdaseins entschieden.

Signet der Werkstatt von Dora Wibiral und Dorothea Seeligmüller mit der Initiale DSW, um 1903. Foto: Sabine Walter, © Klassik Stiftung Weimar

Das Nietzsche-Archiv widmet ihnen nun die kleine Präsentation „Offene Freundschaften“ aus dem 2021 erworbenen Nachlass des außergewöhnlichen Paares. Das gemeinsame Label „Dorothea Seeligmüller-Wibiral“ und die Verschmelzung ihrer Initialen im Signet spiegeln die Innigkeit dieser besonderen Beziehung. Die Partnerinnen im Leben wie in der Kunst wurden in Halle (Saale) im Familiengrab Seeligmüller beigesetzt.

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