Materialisierte Winckelmann-
Lektüren
In Weimar wird ein ganz besonderes Objekt zum ersten Mal öffentlich gezeigt: Gotthold Ephraim Lessings Handexemplar von Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Alterthums‹.
Zu den frühesten und zugleich prominentesten Rezeptionszeugnissen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums gehört zweifellos Gotthold Ephraim Lessings Handexemplar der Dresdener Erstausgabe, die der gelehrte Dichter und Kritiker mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen versehen hat. Dieses Exemplar begleitete Lessing von 1764 in Breslau bis zu seinem Tod 1781 in Wolfenbüttel und war für sein eigenes literarisches Schaffen in mehrfacher Hinsicht richtungsweisend.
Das große Opus weckte in ihm nicht nur ein verstärktes Interesse für Fragen der Altertumskunde, mit denen er sich vor allem in seinen immer wieder auf die Geschichte der Kunst Bezug nehmenden antiquarischen Schriften befasste, sondern war darüber hinaus auch der eigentliche Anlass für sein kunsttheoretisches Hauptwerk, dessen erster und einzig vollendeter Teil 1766 in Berlin erschien unter dem Titel: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte.
Ausgehend von Winckelmanns Deutung der antiken Laokoon-Gruppe in dessen Gedanken über die Nachahmung (1756) und der Darstellung des entsprechenden Mythos bei Vergil, versucht Lessing im Hauptteil seiner Abhandlung, die grundlegenden theoretischen Unterschiede zwischen Dichtung und bildender Kunst herauszuarbeiten. Erst in den letzten vier Kapiteln kommt er auf diverse Punkte bzw. »Fehler« in dessen Kunstgeschichte zu sprechen und inszeniert – wohl aus strukturellen Gründen – eine späte Lektüre dieser zentralen Schrift: »Des Herrn Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben.« (Laokoon XXVI)Dass es sich bei seiner Behauptung jedoch um eine reine Fiktion handelt, beweisen nicht zuletzt die Notizen in seinem Handexemplar. Nach dem Schriftbild der frühesten Einträge zu schließen, die in dichtgedrängten Zeilen die fliegenden Blätter vor und nach den bedruckten Seiten des Buches füllen, hat Lessing Winckelmanns Kunstgeschichte bereits 1764 in Breslau gelesen und dabei unter anderem jene Punkte kritisch kommentiert, die später Eingang in die letzten vier Kapitel seiner Laokoon-Abhandlung gefunden haben.
Interessanterweise sind es gerade die Detailfragen, die ihn zu produktiver Kritik anregen – so etwa die Deutung des Borghesischen Fechters, der er in seiner eigenen Schrift ein ganzes Kapitel widmet, oder die Datierung der Antigone des Sophokles, mit der er sich auf den letzten drei Seiten seiner Abhandlung in einer längeren Fußnote befasst. Gerade dieser antiken Tragödie, und nicht etwa der Laokoon-Gruppe, gilt bezeichnenderweise auch Lessings erste Anmerkung in seinem Handexemplar.
Die meist knapperen Randnotizen im Innenteil des Buches belegen, dass es bei jener ersten Lektüre jedoch nicht geblieben ist. Vielmehr hielt Lessings Interesse an der Geschichte der Kunst offenkundig bis weit in die Siebzigerjahre hinein an, als er sich mit dem Plan trug, eine eigene Ausgabe von Winckelmanns Hauptwerk mit Anmerkungen und Berichtigungen vorzulegen.
Seit Johann Joachim Eschenburg das wertvolle Exemplar aus Lessings Nachlass im September 1787 in Wolfenbüttel ersteigern konnte, befindet es sich in Privatbesitz. Im Rahmen der Jubiläumsausstellung »Winckelmann. Moderne Antike« wird es in Weimar nun zum ersten Mal öffentlich präsentiert.
Die Ausstellung »Winckelmann. Moderne Antike« ist vom 7. April bis 2. Juli 2017 im Neuen Museum in Weimar zu sehen.