Kosmos Weimar · Fundstück
Tolstoi und der Wille zur Macht
Das Buch Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe wurde 1901 als posthumes Hauptwerk Nietzsches herausgegeben und erlebte eine Reihe erweiterter Neuauflagen. Dass es sich bei dem Werk um eine Neuschöpfung des Nietzsche-Archivs unter der Leitung von Nietzsches Schwester Elisabeth handelt, ist seit langem bekannt. Aus nachgelassenen Aphorismen zusammengefügt, wurde es als originäres Werk Nietzsches ausgegeben, an dessen Fertigstellung er durch seine Krankheit angeblich gehindert war. Die Kritische Gesamtausgabe der Werke Nietzsches zeigt in der Konkordanz der Bände VII 2 und VII3 detailliert auf, aus welchen Arbeitsheften und Nachlassfragmenten die Aphorismen des Werkes stammen.
Weniger bekannt ist, dass sich neben den von Nietzsche selbst verfassten Texten sowie einigen »Zugaben« des Nietzsche-Freundes Heinrich Köselitz auch Fremdgedanken in die Kompilation eingeschlichen haben. So finden sich im Willen zur Macht Paraphrasierungen von und Bezugnahmen auf Textstellen von Ferdinand Brunetière, Ernest Renan oder auch Leo Tolstoi.
Der Aphorismus 141 der ersten Ausgabe des Willen zur Macht von 1901 (Aph. 224 in der 2. Ausgabe von 1906) lautet beispielsweise:
»Gott schuf den Menschen glücklich, müssig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches leben ist ein falsches, abgefallenes sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz … Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, Etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat! …
Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adam’s hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt Dem, der an ihn glaubt, den Normalzustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört, die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten.
Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist – Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen –, das hat die Kirche umso bestimmter behauptet. ›Er ist frei von Sünde‹ – nicht durch sein Thun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die That der Erlösung freigekauft – folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch… […]«
Die Vorstufe zu diesem Aphorismus entstand in einer Zeit, in der sich Nietzsche intensiv mit Tolstois Werk Mein Glaube auseinandersetzte. Im selben Arbeitsheft finden sich zahlreiche Exzerpte und Paraphrasierungen aus diesem Text, meist mit Nennung des Autors. Dieser Textabschnitt, zu dem sich kein direkter Verweis auf den Urheber Tolstoi findet, wurde vom Nietzsche-Archiv (absichtlich oder unabsichtlich?) fälschlicherweise als originärer Text des Philosophen ausgegeben.
Im Original von Tolstoi lautet die Passage in erstaunlicher Ähnlichkeit zum Text der Kompilation:»Gott erschuf den Menschen glückselig, unsterblich und ohne Sünde. Die Glückseligkeit des Menschen bestehend im ruhelosen Genusse der Güter des Lebens, seine Unsterblichkeit bestand darin, das er ewig in dieser Weise leben sollte, seine Unschuld, dass ihm das böse völlig fremd war. […] Die Lage eines arbeitenden und leidenden Menschen, der nach dem Guten strebt, das Böse vermeidet und stirbt, dieser thatsächliche Zustand, neben dem wir uns einen anderen nicht vorstellen können, ist dieser Glaubenslehre zufolge nicht der wahre Zustand des Menschen, sondern ein durchaus unnatürlicher, zufälliger, nur zeitweilig währender.
Wenngleich dieser Zustand für alle Menschen nach dieser Lehre von der Vertreibung Adams aus dem Paradiese, d.h. vom Uranfang der Welt bis zu Christi Geburt gewährt hat und für alle Menschen noch weiter währt, sollen die Gläubigen sich denken, dass das nur ein zufälliger vorübergehender Zustand ist. Nach dieser Lehre ward der Sohn Gottes […] von Gott in menschlicher Gestalt zur Erde gesandt, um die Menschen von diesem unnatürlichen, zufälligen und vorübergehenden Zustande zu erlösen, den Fluch von ihnen zu nehmen, den eben dieser Gott für Adams Sünde erteilt hat und die zu ihrem früheren, natürlichen Zustande der Glückseligkeit zurückzuführen, d.h. zu Schmerzlosigkeit, Unsterblichkeit, Unschuld und Müssiggang.
Christus […] hat nach dieser Lehre durch seinen Märtyrertod die Sünde Adams gesühnt und diesen unnatürlichen Zustand des Menschen, der von Uranfang an bestand, aufgehoben. Seitdem ist der Mensch, der an Christus glaubt, derselbe geworden, der im Paradiese gewesen ist, d.i. unsterblich, von Krankheit frei, unschuldig und müssig.«
Dies ist nur eines von mehreren Beispielen für Verfälschungen, die sich in Nietzsches ›Hauptwerk‹, Der Wille zur Macht, nachweisen lassen.
Nietzsches Nachlass
Anlässlich des 170. Geburtstages von Friedrich Nietzsche präsentiert die Klassik Stiftung Weimar vom 8. August bis 18. Dezember 2014 im Goethe- und Schiller-Archiv eine Kabinettausstellung zum Nachlass des Philosophen. In den kommenden Wochen berichten wir im Blog von kleinen Entdeckungen am Rande der Ausstellung.