„Walter Gropius hat sich selbst stilisiert“
Winfried Nerdinger hat mit „Walter Gropius – Architekt der Moderne” eine umfangreiche Biografie des Bauhaus-Gründers vorgelegt. Ein Gespräch über Gropius‘ Fähigkeit, sich selbst ins rechte Licht zu rücken und große Bauaufträge, die seinem Ruf schadeten.
Herr Prof. Nerdinger, in diesem Jahr wurde kräftig am Mythos Walter Gropius gekratzt. Er sei kein kreativer Architekt und Designer gewesen, habe nicht zeichnen können, war zu lesen. Wo lagen seine Stärken?
Die Kritik ist so nicht richtig, Gropius konnte sehr wohl zeichnen, aber nicht gut. Es gibt Handzeichnungen von ihm oder Berichte von Mitarbeitern und Schülern, dass er ab und zu auch selbst zum Bleistift gegriffen hat. Aber da er viel besser reden als zeichnen konnte, hat er lieber seine rhetorischen Stärken ausgespielt.
Seit Ende der 20er-Jahre wurde Gropius von verschiedenen Kollegen und ehemaligen Mitarbeitern, später auch von diversen Autoren, eine eigene Kreativität abgesprochen. Das ist ebenfalls falsch. Man kann genau aufzeigen, dass die Mitarbeiter ohne Gropius nicht in der Lage waren, derartige Meisterleistungen wie das Faguswerk oder das Bauhausgebäude in Dessau zu vollbringen. Nur durch Gropius‘ Kreativität, die er eben insbesondere verbal vermittelte, sind mit Hilfe der Mitarbeiter diese Bauten entstanden.
Woher kommen diese Zuschreibungen?
Gropius selbst hat bereits während seiner kurzen Studienzeit in Briefen an seine Mutter geschrieben, dass er Probleme mit dem Zeichnen habe. Schon während des Studiums, das er nach wenigen Semestern abgebrochen hat, gab ihm sein Onkel Aufträge, die er gemeinsam mit einem Zeichner abgewickelt hat. Wir können es uns wohl so vorstellen, dass Gropius, wie auch später im Büro, seine architektonischen Vorstellungen verbal vermittelte, auch ein bisschen skizzierte und dann das, was die Mitarbeiter lieferten, korrigierte und in eine bestimmte Richtung lenkte, sodass schließlich das Ergebnis entstand, das er sich vorstellte.
Die Kritik an Gropius kam oft von Personen, die nur gehört hatten, er zeichne nicht selbst. Das sind zumeist laienhafte Vorstellungen von den Arbeitsprozessen bei der Planung von Architektur. In vielen Architekturbüros entstehen tagtäglich und weltweit Entwürfe, die der jeweilige Bürochef nur kontrolliert und den Mitarbeitern mitteilt, was geändert und in welche Richtung weiterentwickelt werden soll.
Inwiefern hat Gropius selbst Einfluss auf das Bild genommen, das von ihm vermittelt wurde?
Er hat sich selbst stilisiert – insbesondere im Hinblick auf seine Leistung als Gründer und Direktor des Bauhauses. Und er hat seine Mitarbeiter, das muss man auch sagen, nicht besonders hervorgehoben, höchstens marginal am Rande erwähnt. Diese Tendenz verstärkte sich noch im Laufe seines Lebens. Sich selbst wusste er immer ins rechte Licht zu rücken.
Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Die erste große Ausstellung über das Bauhaus, 1938 im New Yorker Museum of Modern Art, hieß „bauhaus 1919–1928“. Die Zeit und die Leistungen seiner beiden Nachfolger als Direktoren am Bauhaus, Hannes Meyer und Ludwig Mies van der Rohe, fehlen komplett. Das Bauhaus wurde von Gropius völlig auf seine Person konzentriert und dabei die Geschichte verfälscht.
Was für ein Mensch war Gropius? Wie würden Sie seinen Charakter beschreiben?
Gropius war von sich und seinem Auftrag als Architekt ausgesprochen überzeugt. Er wollte seine Mitbürger zur modernen Gestaltung buchstäblich erziehen. In einer Rede erklärte er 1964, Aufgabe des Architekten sei es, gegen das „visuelle Analphabetentum“ zu kämpfen und den „Durchschnittsbürger“ zu „bindenden Wertmaßstäben“, die er allerdings selbst definierte, zu erziehen.
Gropius hat sich aber auch beispielsweise dafür eingesetzt, dass früh eine Kantine für die Studierenden am Bauhaus entstanden ist.
Walter Gropius hatte sicher auch eine soziale Seite. Er setzte sich immer wieder für die Schüler ein und kämpfte beispielsweise lange für eine eigene Bauhaus-Siedlung. Auch politisch hat er sich im Laufe seines Lebens immer wieder engagiert. In den Vereinigten Staaten sprach er sich in den 50er-Jahren bei einer Ehrung öffentlich gegen die Rassentrennung aus. Auf der anderen Seite war er oft sehr elitär und zu seinem Umgang mit Frauen würden wir heute sagen, dass er nicht korrekt war.
Was war aus Ihrer Sicht Gropius‘ wichtigste Leistung in Bezug auf das Bauhaus?
Die wichtigste Leistung war, dass er das Bauhaus neun Jahre lang, von der Gründung 1919 bis zu seinem Weggang 1928, in einem unermüdlichen Kampf gegen die kontinuierlichen Anfeindungen und die inneren sowie die finanziellen Probleme zusammengehalten hat. Er hat öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, Vorträge gehalten, hunderte von Briefen geschrieben, publiziert und sein Bauhaus, das ja von Anfang an unter Druck und immer wieder auch auf der Kippe stand, am Leben gehalten. Das ist seine ganz, ganz große Leistung.
Welche Rolle spielte seine Frau Ise Gropius, die am Bauhaus viele organisatorische Aufgaben übernahm?
Sie war seine Vertraute, hat sich voll und ganz hinter ihn gestellt und alle seine Ideen und Konzepte aufgenommen und auch weitergetragen. Ise Gropius hat zahllose Briefe nach seinem Diktat geschrieben, Manuskripte vorbereitet, zusammengestellt und auch als eine Art Botschafterin des Bauhauses fungiert. Aber ich würde nicht sagen, dass sie in entscheidender Weise in das Bauhausgeschehen eingewirkt hat.
Welche neue Erkenntnis über Gropius hat Sie am meisten überrascht?
Ich habe 1979 begonnen, über Walter Gropius zu forschen und in Harvard ein ganzes Jahr den gesamten schriftlichen und zeichnerischen Nachlass durchgearbeitet. Insofern konnte ich mir durch zehntausende von Briefen, wahrscheinlich sind es etwa achtzigtausend, schon 1980 ein sehr detailliertes Bild dieser Persönlichkeit verschaffen. Aber es sind in der Zwischenzeit zahlreiche neue Erkenntnisse hinzugekommen, auch von anderen Historikern, die ich in meine Biografie eingebunden habe. Beispielsweise zur Frage, weshalb Gropius im März 1928 das Bauhaus verlassen hat.
Wie kam es dazu?
Nach einem Wechsel in der Politik hatte Gropius bereits in Weimar ein Jahr lang gegen die konservativen und rechten Kräfte gekämpft, die versucht haben, das Bauhaus abzuwürgen. Und er hat diesen Kampf verloren, obwohl es ihm fast gelang, das Bauhauses in eine GmbH umzuwandeln und damit komplett von außen zu finanzieren. Politisch wurde das nicht akzeptiert, das Bauhaus wurde zerschlagen.
Ende 1927, Anfang 1928 stand er wieder unter einem enormen politischen Druck. Grund waren Bauschäden und Kostensteigerungen der Bauhaus-Siedlung in Dessau-Törten. Diese Probleme weiteten sich politisch aus, er wurde persönlich in der Presse und der Öffentlichkeit angegriffen, und er verlor die politische Rückendeckung. In einem Brief an den Oberbürgermeister schrieb er, dass er das nicht weiter mitmache. Er sehe, dass er keine Unterstützung habe und alles auf seinem Rücken ausgetragen werden soll. Im März 1928 verließ er zum Entsetzen aller, die das nicht mitbekommen haben, das Bauhaus. Die eigentlichen Gründe blieben lange unbekannt.
Wie ging es für Gropius weiter?
Gropius geht nach Berlin und hat große Aufträge, aber mit der Weltwirtschaftskrise und dann der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist es mit dem Bauen vorbei. Er geht 1934 nach London und wird dann 1937 nach Harvard berufen, über diese Zeit war in Deutschland bislang wenig bekannt. Die größten Aufträge seines Lebens erhielt Gropius dann in den 50er- und 60er-Jahren. Beispielsweise plante er die Universität in Bagdad, die größte Universität im Nahen Osten für 18.000 Studenten – ein riesiger Bauauftrag, der letztlich an den politischen Umständen scheiterte. In Berlin soll er die „Gropiusstadt“ bauen – dieser Auftrag wird ihm in Teilen entzogen.
Der Bau des „Pan Am Building“, damals das größte Bürogebäude der Welt, errichtet auf dem teuersten Grundstück der Welt, schadete seinem Ruf als Architekt. Er stellte das riesige Gebäude quer zur Park Avenue und riegelte die Straße für ein Kommerzzeichen ab. Diese architektonische Todsünde wird ihm bis heute in Amerika massiv vorgeworfen. In Deutschland wurde das allerdings nicht wirklich thematisiert. Hier war er in den 50er- und 60er-Jahren der strahlende Bauhaus-Held aus der Weimarer Republik, der Repräsentant eines besseren Deutschland und eine Berufung auf ihn oder das Bauhaus garantierten geradezu demokratische Gesinnung.