Das Goethe- und Schiller-Archiv feiert 125. Geburtstag. Am 28. Juni 1896 wurde es offiziell eingeweiht. Foto: ©Klassik Stiftung
Zum 125. Baugeburtstag des Goethe- und Schiller-Archivs
von Yvonne Pietsch
Herman Grimm musste leider absagen. Die Einweihung des ältesten Literaturarchivs Deutschlands im Juni 1896 fand ohne ihn statt. Dabei gehörte der Goethe-Forscher zu den geistigen Vätern des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar.
Die Einladung zur feierlichen Eröffnung des Goethe- und Schiller-Archivs für den 28. Juni 1896 hatte Herman Grimm (1828–1901) im Mai erhalten. Seine Absage begründete er in seinem Antwortbrief an den Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, Bernhard Suphan, mit seinem kränklichen Allgemeinzustand:
„Meine Gesundheit ist so plötzlichem Wechsel unterworfen, daß ich über mich nicht sicher disponieren kann. Es würde mir beschämend sein, die Einladung anzunehmen und, vielleicht dicht vor Beginn der Feierlichkeit oder während derselben um Entschuldigung bitten zu müssen.“
Grimm, einer der wichtigsten Goethe-Experten im späten 19. Jahrhundert, war also zu Hause in Berlin, als der Festakt in Weimar an einem Sonntag mit Glockengeläut begann. Großherzogin Sophie, die den Bau fast vollständig aus eigenen Mitteln finanziert hatte, und ein erlesener Kreis von geladenen Gästen waren zugegen: Mitglieder von Fürstenhäusern, Professoren und Wissenschaftler, Goethe-Forscher, Vorstandsmitglieder literarischer Gesellschaften, Schriftsteller und Stifter von Handschriften.

Herman Grimm (1828–1901), Sohn des berühmten Sprachwissenschaftlers Wilhelm Grimm, gehörte zu den Mitbegründern der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Foto: ©Klassik Stiftung
Feierliche Reden wurden gehalten. Der Höhepunkt der Veranstaltung war die Überreichung von sieben großformatigen, in rotbraunes Leder eingeschlagenen Bänden, die Goethes eigenhändige Briefe an Charlotte von Stein aus den Jahren 1776 bis 1826 enthielten. Die mehr als 1770 darin aufbewahrten Briefe gehören auch heute noch zu den kostbarsten Archivalien des Hauses. Nach dem Festakt konnten die Gäste das Gebäude besichtigen und die Handschriften in den Vitrinen – damals auf drei Säle in der Beletage verteilt – betrachten.

Das Festprogramm zur Einweihung des Goethe- und Schiller-Archivs. Foto: ©Klassik Stiftung
Grimm kam erst zwei Monate später nach Weimar, um das Gebäude in Augenschein zu nehmen. Er war seit 1873 Professor für Kunstgeschichte in Berlin und gehörte zu den herausragenden Goethe-Philologen seiner Zeit. Besonders hervorgetreten war er durch seine im Wintersemester 1874/75 gehaltenen und 1877 publizierten „Vorlesungen über Goethe“. Mit diesem Titel hatte er einer kultischen Goethe-Verehrung entsprochen, wie sie für das kaiserliche Deutschland charakteristisch war. Nationale Identität wurde nicht ohne nationale Literatur gedacht – und Goethe war dafür die geeignete Projektionsfigur.
Heroisierung des Dichterfürsten
Grimms vorrangiges Anliegen war keine historisierende Darstellung von Goethes Leben und Werk, sondern die Heroisierung des Dichterfürsten. Mit und durch Goethe sollte auch die Verklärung der eigenen Reichsgründungszeit gelingen. Goethe zu studieren, diente der Erkenntnis der eigenen nationalen Identität.

Die Gründung des Archivs geht auf das Testament des letzten Goethe-Enkels Walther zurück, durch dessen Verfügung der Goethesche Nachlass am 15. April 1885 in den Besitz der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach (oben links) gelangte. Foto: ©Klassik Stiftung
Grimm gehörte zu den Begründern der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Gemeinsam mit den beiden herausragenden Goethe-Forschern Erich Schmidt und Gustav von Loeper hatte er sich bei der Großherzogin für die Berufung Bernhard Suphans als Direktor des noch zu errichtenden Archivs eingesetzt.
Auf Wunsch der Großherzogin verfasste er das Vorwort zum ersten Band der „Weimarer Ausgabe“, einem Großprojekt zur Veröffentlichung sämtlicher Werke Goethes aus dem handschriftlichen Nachlass. Nach seinem Besuch im August 1896 in Weimar schrieb er an die Großherzogin, die auf ihren schlesischen Gütern weilte, mit Blick auf das neue Archiv-Gebäude:
„Das Goethe-Schiller-Archiv erhebt sich wie eine Citadelle über der Stadt. Mag Weimar auch noch so breit einmal das Thal ausfüllen, immer werden Stille und Einsamkeit, die die Beschützerinnen geistiger Arbeit sind, hier walten. <…> Ich denke mir Goethe diese Treppen emporsteigend, oder Schiller aus diesen Fenstern in die Bäume herabsehend; ein wie freundliches Gefühl der Befriedigung würde sie erfüllt haben, wenn ihre Phantasie diese Wohnräume ihrer Schriften als etwas Zukünftiges ihnen vorgespiegelt hätte.“

Die Prachtausgabe der Weimarer Ausgabe im Direktorenzimmer des Goethe- und Schiller-Archivs, Foto: @Klassik Stiftung
Nach dem Tod der Großherzogin im März 1898 veröffentlichte Grimm seinen Aufsatz „Die Zukunft des Weimarischen Goethe-Schiller-Archivs“ mit „Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Instituts“. Die Aufgabe des Archivs mit Wirkung nach innen und außen sah er vor allem in der wissenschaftlichen Beschäftigung: Die von der Großherzogin Sophie initiierte „Weimarer Ausgabe“ von Goethes Werken sollte zum Abschluss gebracht werden. Als Nachfolgeprojekt wünschte sich Grimm die Entstehung eines „Deutschen Wörterbuchs“ im Archiv. Als Sohn des berühmten Sprachwissenschaftlers Wilhelm Grimm musste ihm dies aus der familiären Geschichte heraus ein Anliegen sein.
Zugleich plädierte er für eine kontinuierliche Erweiterung des Archivbestandes durch Ankauf und Stiftung von Handschriften. Sammlungsschwerpunkte sah er dabei nicht nur im Bereich der Klassik, sondern vor allem auch in der zeitgenössischen Literatur.

Titelblatt der Schrift „Die Zukunft des Weimarischen Goethe-Schiller-Archivs“ mit Widmung von Bernhard Suphan, dem ersten Direktor des Goethe-Schiller-Archivs. Foto: ©Klassik Stiftung
Grimms Ideen für die Zukunft des Archivs wurden nur zum Teil umgesetzt. Die Hauptanstrengung der folgenden Jahre lag in der Vollendung der großen Weimarer Ausgabe in vier Abteilungen. Der letzte Band erschien 1919. Mit der Jahrhundertwende aber wurde Weimar immer mehr zum Inbegriff eines konservativen Kulturbewusstseins, das Archiv erhielt zunehmend musealen Charakter. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts sollten archivische Aufgaben in den Fokus rücken.
Revision der „Weimarer Ausgabe“ im PROPYLÄEN-Projekt
Grimms Forderungen nach der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Bestände und deren Vermittlung nach Außen gehören indes auch heute noch zu den maßgeblichen Aufgaben des Goethe- und Schiller-Archivs. Die digitale Wende und neue editorische Standards verlangten nach einer Revision der „Weimarer Ausgabe“, wie sie für Goethes Tagebücher und seine Briefe derzeit von WissenschaftlerInnen im Rahmen des PROPYLÄEN-Projektes erarbeitet wird. Ein digitales Forschungsvorhaben zu Goethes Lyrik wird sich daran anschießen.
Weiterführend:
Johann Wolfgang Goethe: Neue Weimarer Ausgabe
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