Bislang unbekannte Protokolle: Neue Einblicke in die "Deutsche Tischgesellschaft"
von Johannes Barth
Literaturhistoriker haben die 1811 gegründete „Deutsche Tischgesellschaft“ sehr unterschiedlich dargestellt. Neue Einblicke in die Vereinsgeschichte ermöglichen die jetzt von der Klassik Stiftung Weimar erworbenen Protokolle der Gesellschaft.
„Halbwahrheiten“ und „alternative Fakten“ sind keine Erfindungen des 21. Jahrhunderts. Sie begegnen uns auch nicht nur im politischen Diskurs, sondern ebenso in der Literaturgeschichtsschreibung. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist das Bild der „Deutschen Tischgesellschaft“, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss des deutschnational und antisemitisch orientierten Germanisten Reinhold Steig (1857–1918) entstand und lange Zeit die Forschung dominierte.
Der Dichter Ludwig Achim von Arnim gründete 1811 in Berlin zusammen mit dem Staatstheoretiker Adam Heinrich Müller die „Deutsche Tischgesellschaft“. Unter den Mitgliedern waren Adelige und Bürgerliche aus den führenden Kreisen der Berliner Gesellschaft: Beamte und Soldaten, Professoren, Künstler und Politiker. Die Herren trafen sich vierzehntägig zu einem gemeinsamen Essen sowie geselligem und politischem Austausch in einem Gasthaus. Doch welche Ziele verfolgte die Vereinigung?
Steig stellte die „Deutsche Tischgesellschaft“ als einen Zusammenschluss reaktionärer Junker dar, welche die 1810 begonnene Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg bekämpfen wollten. Diesen angeblichen Befund begriff Steig keineswegs kritisch: Vielmehr ging es ihm darum, die Romantikerkreise um Arnim für seine eigene Ideologie in Anspruch zu nehmen.
Die Sozialgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach Wurzeln politischer Fehlentwicklungen in Deutschland suchte, argumentierte aus umgekehrter Perspektive: Arnims „Tischgesellschaft“ stand für Fortschrittsfeindlichkeit. Beide Extreme werden den historischen Ambivalenzen jedoch nicht gerecht.
Viele Mitglieder für Veränderungen durchaus aufgeschlossen
Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat der Germanist Stefan Nienhaus herausgearbeitet, dass die meisten Mitglieder vielmehr den zeitgenössischen Veränderungen in Preußen durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden. Schon deshalb könne von einer politischen Kampfbewegung keine Rede sein.
Nienhaus konnte sich bei seiner Neubewertung auf die zu dieser Zeit bekannten Unterlagen der Tischgesellschaft stützen. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Reden, Gedichte und sonstige Beiträge zu den Versammlungen von Arnim, Clemens Brentano, Johann Gottlieb Fichte und anderen. Was fehlte, waren hingegen vor allem die sogenannten Tagblätter, das heißt die Protokolle der einzelnen Zusammenkünfte, die vom Vorsitzenden, dem „Sprecher“, nachträglich erstellt wurden.
Eben diese zuvor unbekannten Tagblätter konnten in diesem Jahr durch das Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar in zwei gebundenen Konvoluten aus Privatbesitz erworben werden. Die Protokolle reichen von der ersten bis zur 369. Versammlung am 4. Oktober 1826. Nun erst lässt sich die Geschichte der Vereinigung detailliert übersehen und ihr Charakter präziser bestimmen. Mit folgenden Worten beginnt Arnim, der als „Stifter“ der Tischgesellschaft auch eine Art Ehrenpräsident war, das erste Tagblatt:
„Am Krönungstage des 1811ten Jahres nach Christi Geburt (am 18ten Januar) eröffnete Unterzeichneter die erste Versammlung der, durch freye Uebereinkunft verbundenen, deutschen Tischgesellschaft, indem er der selben seine Vorschläge zu den Grundgesetzen vorlas und mit wenigen Worten auf die Wichtigkeit der ersten Gesetzgebung einer gesellschaftlichen Verbindung aufmerksam machte, in der sowohl dem Scherz wie dem Ernst seine Stelle gesichert bleiben muß, um die Entfaltung des lebenden Keimes zu gestatten.“
Mit einer Portion romantischer Ironie
Das Zusammenspiel von „Scherz“ und „Ernst“ bleibt in der Tat ein Leitmotiv in den Aktivitäten der Tischgesellschaft, wie die Protokolle, aber auch die überlieferten poetischen Beiträge belegen. Zumal die von Arnim stammenden Tagblätter zeigen, dass er die (wohlgemerkt von ihm selbst vorgeschlagenen!) „Grundgesetze“ stets mit einer gehörigen Portion romantischer Ironie handhabte.
Eine Passage aus dem dritten Tagblatt vom 12. Februar 1811 über Sanktionen für verspätet eintreffende Mitglieder liest sich eher wie ein Auszug aus einer der späten humoristischen Erzählungen des Dichters als wie ein trockenes Vereinsprotokoll:
„[Ich] verfügte mich deswegen eine halbe Stunde vor dem Essen unter die Linden, um meine Uhr genau nach der akademischen zu stellen. [Die 1787 installierte astronomische Uhr am Gebäude der Akademie der Wissenschaften, die laut Heinrich Heine „am richtigsten geht von allen Uhren Berlins“.] Mit dem Augenblicke des Eintrits der dritten Stunde beorderte ich die dienenden Männer, Suppe aufzutragen und stellte die blecherne Kassenbüchse bereit die Strafgelder der zu spät ein treffenden Mitglieder einzunehmen. Wirklich verfielen mehrere in diese Strafe, deren Namen aus Schonung verschwiegen bleibe, möge diese Busse ihre Herzen zur Besserung lenken.“
Schon nach der ersten Durchsicht der Konvolute lässt sich sagen, dass die wissenschaftliche Auswertung dieser neu entdeckten Unterlagen dies auf Reinhold Steig zurückgehende Auffassung der Tischgesellschaft als eine regierungs- und reformfeindliche Junker-Vereinigung weiter widerlegen wird. Stattdessen eröffnet sich ein komplexes Bild.
Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit
Richtig ist: In der Tischgesellschaft fanden höchst unterschiedliche Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Militär zusammen, bürgerlich und adelig, progressiv und reaktionär. Richtig ist auch: Der ausgeprägte Antisemitismus, ebenso die Frauenfeindlichkeit des Vereins, in dem jüdische und weibliche Mitglieder ausdrücklich unerwünscht waren, entsprechen keineswegs den Üblichkeiten um 1811, sondern bedürfen genauer Untersuchungen.
Die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der „Deutschen Tischgesellschaft“ zeigt ideologische Deutungskämpfe. Sie zeigt auch, wie Einseitigkeiten und Verfälschungen wieder richtigzustellen sind: nämlich durch den Rückgriff auf die originalen Quellen. Diese haben sich im vorliegenden Fall durch den Erwerb der Protokolle der Gesellschaft auf erfreuliche Weise vermehrt.
Die neu erworbenen Konvolute der „Deutschen Tischgesellschaft“, ebenso auch der Bestand zu ihrem Gründer Arnim und ihrem ersten „Schreiber“ (Schriftführer) Clemens Brentano stehen im Goethe- und Schiller-Archiv digital für die Forschung und die Öffentlichkeit zur Verfügung.
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