Prof. Marcus Mazzari, Germanist und Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft Brasilien, zu Besuch bei Dorothea Kuhn im Pflegeheim der Marie-Seebach-Stiftung.

Grenzen waren ihr schnuppe

Sie schwebte darüber hinweg: Zum Tode der Goethe-Expertin Dorothea Kuhn.

Es war eine verwegene Idee, einer nicht besonders sportiven Professorin zum fünfundsiebzigsten Geburtstag eine Fahrt mit einem Heißluftballon zu schenken.

Die Initiatoren aus dem Kreis des Deutschen Literaturarchivs Marbach hatten aber schon damit gerechnet, dass ihre ehemalige Kollegin, die Goethe-Forscherin und Wissenschaftshistorikerin Dorothea Kuhn, das Präsent keineswegs als netten Scherz abtun, sondern ihre erste Ballonfahrt im Leben mit Neugierde und Vorfreude auch tatsächlich antreten würde.

»Wie man den Uhrzeiger nicht vorwärtsgehen sieht und ihn doch bald an anderer Stelle antrifft, so bewegt man sich fast unmerklich und lautlos, sobald der Pilot das Heißluftgerät ausschaltet.«

So schilderte sie das aeronautische Erlebnis voller Begeisterung. Dabei vergaß sie als gewissenhafte Naturwissenschaftlerin nicht, in einer Fußnote Volumen und Durchmesser des Ballons mitzuteilen. »Unerwarteter Aufstieg« hieß der kleine Druck, den Uwe Pörksen und Friedrich Pfäfflin herausgebracht haben.

Der Widerhall, den das Geschenk bei Dorothea Kuhn fand, hatte seinen Grund in ihrer Biographie.

So kam sie schon als Studentin der Chemie an der Universität Halle mit dem Phänomen des Ballons in Berührung, als sie sich mit Gasanalysen und Seifenblasen befasste.

In den Nachkriegsjahren schloss sie ihr Studium in Mainz ab und fand über die Beschäftigung mit der Symmetrie von Pflanzenkörpern zu ihrem Lebensthema Goethe.

Mit 29 Jahren wurde sie Mitarbeiterin der Leopoldina-Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, einer der ganz raren deutsch-deutschen Gemeinschaftsunternehmen.

Ihre uneitle, sachliche und genaue Art des Kommentierens gilt als unübertroffen.

Auch an allen anderen wichtigen Goethe-Ausgaben hat sie mitgewirkt. Dabei stieß sie wieder auf Versuche mit Montgolfieren und Ballonen, die im Weimarer Park an der Ilm stattgefunden haben. Die Heißluftkugeln hatten auch Goethe fasziniert.

Es war naheliegend, dass Bernhard Zeller die Goethe-Expertin Kuhn 1962 ans Deutsche Literaturarchiv holte. Als Leiterin des Cotta-Archivs brachte sie unter anderem die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Cotta heraus, die Siegfried Unseld tief beeindruckt und angeblich zu einem Kniefall vor der Editorin bewegt hat.

Die Manuskripte aber lagen nur zum Teil in Marbach. Weitaus mehr lag im Goethe-und Schiller-Archiv Weimar auf  dem Staatsgebiet der DDR.

Das bedeutete, dass Dorothea Kuhn ständig zwischen Ost und West pendeln musste. Manchmal reiste sie zwanzigmal im Jahr von Marbach nach Weimar.

Man vermag nicht zu sagen, wo sie damals ihren Hauptwohnsitz hatte.

Leiva Petersen, die unvergessene Böhlau-Verlegerin, hatte sie in Weimar als Mitbewohnerin aufgenommen; Dorothea Kuhn hatte eine besondere Begabung für Freundschaft. Nach der politischen Wende zog sie, die gebürtige Hallenserin mit Thüringer Wurzeln, dann ganz nach Weimar.

Wenn man von Spionen absieht, gab es im geteilten Deutschland wohl kaum eine Person, die in beiden Staaten gleichermaßen so zu Hause war wie Dorothea Kuhn.

Sie verkörperte die kulturelle Einheit Deutschlands.

Die tiefen politischen Gräben hat sie, souverän wie eine bedächtig schwebende Luftschifferin, immer wieder überwunden und auch auf diese Weise einen unersetzlichen Dienst für ihr Land geleistet.

Am vergangenen Sonntag ist sie im Alter von 92 Jahren in Weimar gestorben.

Zuerst erschienen unter selbigem Titel am 18.12.2015 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Michael Knoche

Michael Knoche studierte Germanistik, Theologie und Philosophie und absolvierte anschließend eine Ausbildung für den höheren Bibliotheksdienst. Nach seiner Promotion arbeitete Knoche bei Verlagen in Heidelberg und Berlin und war 1991 bis 2016 Direktor der Zentralbibliothek der deutschen Klassik, der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Für seine Arbeit wurde Knoche mit dem Gutenberg-Preis sowie dem Bundesverdienstkreuz geehrt.