Dr. Marcel Lepper im Foyer des Goethe- und Schiller-Archivs

Dr. Marcel Lepper auf der Terrasse des Goethe- und Schiller-Archivs

„Archive sind politische Orte“

Marcel Lepper ist neuer Direktor im Goethe- und Schiller-Archiv. Vor seinem Jobantritt am 1. Juli 2020 sprachen wir mit dem 42-Jährigen darüber, wie man das Archiv für mehr Menschen öffnen kann.

Manche halten Archive für verstaubt und langweilig. Herr Lepper, was fasziniert Sie so an Archiven? 

Archive sind politische Orte. Nicht nur, weil in ihnen Deutung ausgeübt und mit symbolischem Kapital gearbeitet wird, sondern auch, weil es um Zugänglichkeit geht: Wer darf da rein? Archive werden sofort spannend, wenn man selber fragen und aktiv werden darf. Das Detektivische hat mich immer sehr interessiert. Archive sind Orte, wo man mit der Lupe ans Material herangehen kann, um forensisch Spuren zu lesen. Wo sich die eigenen Hypothesen auch als falsch erweisen können. Wo man auf Widerstände stößt.

Sie sind noch recht jung für einen Archivdirektor und haben doch schon in mehreren Archiven Leitungsaufgaben übernommen. Was machen Sie richtig?

Um gut arbeiten zu können, muss man das Orchester mögen und nicht allein Geige spielen wollen. Man muss Lust haben, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Mir ist der Dialog sehr wichtig. Neben der Arbeit im Archiv war ich auch immer in der universitären Lehre tätig. Die Beobachtung von außen hilft gegen einen Tunnelblick. Institutionen wie das Archiv brauchen – natürlich auf der Grundlage von Kontinuität und Kompetenz – Durchlüftung und dynamischen Wandel.

Sie geben Berlin für Weimar auf. Was ist das Besondere am Goethe- und Schiller-Archiv?

Das Goethe- und Schiller-Archiv ist die Matrix, das Modell aller folgenden Literaturarchive. Es übernimmt, anders als das Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin oder das Deutsche Literaturarchiv Marbach, nicht die umfangreichen Bestände von Gegenwartsautorinnen und -autoren. Es kann deshalb stärker eine reflektierende Perspektive aus der historischen Distanz einnehmen. Es ist ein Forschungsparadies ohnegleichen – zugleich ein kulturpolitisch strahlkräftiger Ort. Das symbolische Gewicht von Weimar ist ungeheuer, das Archiv ist weltweit bekannt. Die Spannung liegt darin, diese Symbole nicht nur zu bewirtschaften, sondern sie neu zu denken. Auf die vielen Glückwünsche, die ich zu meiner Ernennung erhielt, habe ich geantwortet, dass jetzt erst mal die Ärmel hochgekrempelt werden. Hier wird gearbeitet, das ist nicht der Olymp. Es geht um die Auseinandersetzung auf dem Marktplatz. Das gestaltende Miteinander ist mir wichtig, nicht die Entrückung.

Was sind Ihre Ziele für das Goethe- und Schiller-Archiv?

Weimar war immer ein Labor für das Verhältnis von Überlieferung, Forschung und Öffentlichkeit. Mein erstes Ziel ist es, wichtige Textschichten der Zeit um 1800 – nicht allein Goethe – abgestimmt innerhalb der Klassik Stiftung und in Kooperation mit anderen Archiven digital frei verfügbar zu machen. Zweitens möchte ich stärker mit Studierenden, aber auch mit Schülerinnen, Schülern und Lehrenden arbeiten und Labor-Situationen herstellen. Hier wären zum Beispiel die 1920er Jahre ein wichtiges Thema: Wie in Weimar lange vor 1933 die Rechtsextremen einrückten und antisemitische Kulturpolitik betrieben. Dieses Material ist bisher noch kaum erschlossen, da muss man richtig zusammen graben und an die Archivkartons gehen.

Dr. Marcel Lepper auf der Terrasse des Goethe- und Schiller-Archivs

Welche Verantwortung hat das Goethe- und Schiller-Archiv vergessenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern gegenüber?

Insbesondere im 19. Jahrhundert, zwischen Goethe und Nietzsche, kann man noch viele spannende Autorinnen und Autoren und Problemstellungen entdecken. Man muss auch neu nach Geschlechterverhältnissen fragen. Hier wurden in den letzten Jahren schon deutlich Gegenakzente gesetzt und die Rolle von Autorinnen um 1800 untersucht. Klassikerpolitik ist Männerpolitik gewesen. Das betrifft auch den Starkult: Frauen wie die 1853 geborene Musikpädagogin Martha Remmert etwa sind nicht nur im Gefolge von Männern wie Franz Liszt erwähnenswert, sondern als eigenständige Akteurinnen.

Rettet oder bedroht die Digitalisierung das Literaturarchiv?

Die Digitalisierung senkt Zugangsschwellen und bietet Anreize, ins Archiv zu gehen! Durch den digitalen Zugriff können sich Interessierte zu Hause auf den Besuch besser vorbereiten. Bisherige Digitalisierungsinitiativen zeigen, dass die Besucher- und Benutzerinnenquoten steigen. Man braucht den realen Ort trotzdem – zum einen, weil das dreidimensionale Blatt Papier immer mehr zeigt als ein Digitalisat. Was ist ein Falz, was ist ein Bleistiftstrich? Das ist bedeutungsentscheidend. Das kann man nur am Objekt überprüfen. Zum anderen geht es immer um den Austausch mit Menschen vor Ort. Archive leben von der Kompetenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen Besucher und Besucherinnen diskutieren, Fragen schärfen und Lösungen erproben können.

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