Familie Lemke im Jahr 1955. Damals leben Elisabeth und Rolf Lemke mit ihren Söhnen im thüringischen Römhild, Foto: privat.

Den Erinnerungen auf der Spur

TEXT Julia Boek FOTOS Axel Völcker

Nach der Flucht von Familie Lemke in den Westen verkaufen die staatlichen Stellen der DDR die zurückgelassenen Kunstgegenstände an die Vorgängereinrichtung der Klassik Stiftung Weimar. 1990 stellen Lemkes einen Antrag auf deren Rückgabe. Das Puzzlespiel beginnt

Wem gehört das Kristall? Zur Erforschung ihrer Provenienz werden die Objekte der Klassik Stiftung Weimar aufwendig klassifiziert

Hin und wieder besteigt Michael Lemke mit seinen Eltern und seinem Bruder Ulrich in den sechziger Jahren einen der Berge der bayrischen Rhön. Oben angekommen, wollen die vier vor allem eins: rübergucken. Weit geht der Blick zu den Feldern der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft im südwestlichsten Zipfel Thüringens, auf den Großen und Kleinen Gleichberg, die dazwischengesprenkelten Gemeinden mit ihren Kirchtürmen. „Ab und zu haben wir einen Bauern gesehen“, erinnert sich der heute 69-jährige Lemke an die Familienurlaube. Beim Blick durchs Fernglas habe sein Vater die winzigen Menschen in der Ferne meist erkannt. Das da drüben ist jetzt der sozialistische Teil Deutschlands.

Nur wenige Jahre zuvor, es sind die fünfziger Jahre im Nachkriegsdeutschland, wachsen Michael Lemke und sein Bruder genau hier, in der thüringischen Kleinstadt Römhild, auf. Ihre Mutter Elisabeth und die Tante, beide geborene Grötzner, sind die Töchter einer großbürgerlichen Familie, deren weite Verwandtschaft über riesige Besitztümer von Thüringen bis nach Ostpreußen verfügt hat – zu einem entfernten Familienzweig gehört die traditionsreiche Porzellanfabrik Tettau.

Nach der Flucht der Lemkes kauft Direktor Holtzhauer gut 80 Objekte vom Rat der Stadt Römhild

Anfang der fünfziger Jahre beziehen Elisabeth und Ehemann Rolf Lemke eines der zwei Häuser aus dem Familienbesitz in Römhild und richten sich zwischen wertvollen Barock- und Rokoko- Möbeln und vielen Kunstschätzen ein. Doch ist das Leben in der noch jungen DDR alles andere als vornehm. Zum Waschen der Kinder, 1951 kommt Michael und 1954 Ulrich zur Welt, erwärmt Elisabeth Lemke Wasser auf der „Küchenhexe“ und gießt es danach in einen Zuber. „Wir hatten kein Badezimmer und nur ein Plumpsklo draußen“, erinnert sich Michael Lemke am Telefon. „Wir haben primitiv gelebt, aber dafür mit hochwertigsten Möbeln.“ Rückblickend muss er bei dieser Vorstellung lachen. Gegen Ende der fünfziger Jahre pflegt das Ehepaar Lemke den Kontakt zu den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (kurz: NFG) – einer Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar. Deren Direktor Helmut Holtzhauer ist für die museale Sammlung auf der Suche nach kunsthandwerklichen Alltagsobjekten aus der Goethezeit. Bei den Lemkes wird er fündig. Zwischen 1958 und 1959 wechseln zahlreiche kunsthandwerkliche Objekte, darunter ein Wandspiegel, Truhen und eine Tischuhr, den Besitzer – neben Verkäufen gibt es Schenkungen. Ein lohnendes Geschäft für beide Seiten, denn schon Anfang März 1959 erreichen weitere Möbel, Gemälde und Graphiken die NFG zu vorläufiger Begutachtung und möglichem Ankauf.

„Wir haben primitiv gelebt, aber dafür mit hochwertigsten Möbeln“

Den damals achtjährigen Michael und seinen fünfjährigen Bruder Ulrich dürfte all dies kaum interessiert haben. Die Nachmittage verbringen die Jungs in der bergigen Rhönlandschaft. Im Familienbesitz der Lemkes ist eine Obstplantage. Werden die Äpfel, Birnen und Kirschen im Sommer geerntet, dürfen die Kinder auf den mit Obstkisten vollgepackten Leiterwagen klettern und den Hügel hinuntersausen. „Bis zu meinem neunten Lebensjahr hatte ich eine wunderschöne Jugend“, sagt Michael Lemke. Am 13. Februar 1960 steigt die Familie mit nur zwei Handkoffern am Römhilder Bahnhof in den Zug nach Darmstadt, um die Verwandtschaft zu besuchen. Eine Meisterleistung – nur auf Umwegen hat Rolf Lemke die Besucherpässe für alle Familienmitglieder erhalten. Einfach zu Fuß über das fünf Kilometer breite Sperrgebiet an der thüringischen Grenze zu Bayern zu laufen, ist 1960 längst zu gefährlich geworden. Reisen in den Westen werden DDR-Bürgerinnen und -Bürgern nur noch unter strengsten Auflagen erlaubt. Dazu gehört, dass Familien nicht mehr gemeinsam in die Bundesrepublik fahren dürfen.

Weit geht der Blick über die deutsch-deutsche Grenze auf die Felder, Berge und kleinen Gemeinden Thüringens, Foto: privat

Weit geht der Blick über die deutsch-deutsche Grenze auf die Felder, Berge und kleinen Gemeinden Thüringens, Foto: privat

„Bis zu meinem neunten Lebensjahr hatte ich eine wunderschöne Jugend“

Vater Lemke, er ist gebürtiger Rheinländer und eigentlich überzeugter Sozialist, kränkelt damals längst mit der DDR. Er hat seinen Job verloren, bekommt keine Zulassung für einen Studienplatz am Polytechnikum. Ab und an passiert es, dass er, der die Dinge gern geradeheraus sagt, unter Druck gesetzt wird. Er will weg – und so verlässt die Familie Römhild im Winter 1960. Elisabeth Lemke aber, eine sehr heimatverbundene Frau, wird erst 14 Tage später erfahren, dass es keine Rückreise nach Thüringen geben wird.

Einen Monat später, am 14. März 1960, wendet sich Direktor Holtzhauer an das örtliche Volkspolizeikreisamt. Zuvor hat ihn ein Schreiben aus Westdeutschland erreicht, in dem das Ehepaar Lemke darum bittet, die in den Häusern zurückgelassenen Kunstgegenstände in Obhut zu nehmen. Nachdem die Volkspolizei so von Lemkes Flucht erfährt, ordnen die staatlichen Behörden die Treuhandverwaltung der Häuser und des Familienbesitzes an. Direktor Holtzhauer bemüht sich nun um die Übernahme etlicher Objekte. Mit Erfolg: Im Mai 1960 kaufen die NFG gut 80 Objekte, die – wie üblich, wenn ein Museum einen Kunstgegenstand erwirbt – ins Inventarbuch eingetragen werden. Auch andere Objekte der Lemkes, die sich eigentlich nur zur Ansicht bei der NFG befunden hatten, werden nach und nach inventarisiert.

60 Jahre später, auf dem Weg zum Zentralen Museumsdepot der Klassik Stiftung im Industriegebiet Weimar-Nord. „Ach zum Bunker wollen Sie“, sagt der Taxifahrer in feinstem Thüringisch und spielt auf die kastenförmige Architektur des Depots mit dem hohen Eisentor an. Drinnen angekommen, erzählt Gert-Dieter Ulferts, Fachbereichsleiter für Hof- und Residenzkultur, in einem Raum – steril wie ein Operationssaal –, wie am 30. Januar 2014 das Schreiben der Stelle zur Regelung offener Vermögensfragen der Thüringer Landesfinanzdirektion bei der Stiftungsleitung einging. Einige Monate nach dem Mauerfall hatten Elisabeth Lemke und ihre Schwester den Antrag im Zuge der „Verordnung zur Anmeldung vermögensrechtlicher Ansprüche“ beim thüringischen Landratsamt Meiningen gestellt. Beigelegt ist dem Schreiben vom 8. September 1990 auch eine Liste mit Kunstgegenständen, an die sich die Familienmitglieder nach fast dreißig Jahren noch erinnern können. Knapp 14 Jahre wird der Fall auf seine Bearbeitung warten. Auf Nachfrage verweist das Thüringer Landesamt für Finanzen auf den „extrem hohen Rechercheaufwand“ infolge von mehreren hunderttausend Anträgen zur Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche, die Anfang der Neunziger in jedem neuen Bundesland gestellt wurden. So müssten zur Recherche „alte Akten aus Archiven gesucht, Grundbücher recherchiert, Grundstücksveränderungen über zum Teil 70 Jahre nachvollzogen, Erben weltweit ausfindig gemacht werden“, heißt es. Zu viel Zeit für Lemkes: Sie versterben in den neunziger Jahren und werden die Rückgabe des Familienbesitzes nicht mehr erleben.

„Beim Fall Lemke waren viele Dinge ungewöhnlich“, sagt Gert-Dieter Ulferts, der sich seit 20 Jahren mit Restitutionsfragen in der Klassik Stiftung beschäftigt

Die Klassik Stiftung Weimar jedoch handelt umgehend: Sammlungsleiter Ulferts beauftragt Gabriele Oswald mit der Recherche der Provenienz im Institutsarchiv der Stiftung. Eine weise Entscheidung, denn eigentlich als Kustodin für die Schärfung des Profils der Möbelsammlung zuständig, ist Oswald geübt, Objekte zu identifizieren, die die NFG bzw. deren Direktor Holtzhauer in den sechziger Jahren für die Sammlung anschaffte. Dabei reicht der feine Spürsinn der 54-Jährigen sogar so weit, dass sie die handschriftlichen Einträge in den Briefwechseln oder Inventarbüchern den früheren Mitarbeitern zuordnen kann.

„Es ist wichtig, dass die Objekte ihre Identität zurückbekommen, sonst ist es tote Materie“

In detektivischer Kleinarbeit vertieft sich Gabriele Oswald nun in die Objektliste der Lemkes, gleicht diese mit den Einträgen der Inventarbücher ab, recherchiert nach Korrespondenzen zwischen 1958 und 1961. Schwierig gestaltet sich das Puzzlespiel auch deshalb, weil das Institutsarchiv noch nicht digital aufgearbeitet ist. Abschrecken aber lässt sich die Kunsthistorikerin von den 400 bis 500 Seiten starken Akten und den handbeschriebenen Karteikarten nicht. Es sei ihr wichtig, „dass die Objekte ihre Identität zurückbekommen“, sagt sie, „sonst ist es tote Materie“. Gabriele Oswald ermittelt die einzelnen Phasen, in denen die Kunstgegenstände der Lemkes seit 1958 die NFG erreichten. Sie identifiziert, welche Objekte rechtmäßig durch Verkauf oder Schenkung und welche unrechtmäßig durch die spätere Enteignung in die NFG kamen und welche einfach dort verblieben. Sie bittet die Depotmeister, nach den Objekten auf den Inventarlisten zu suchen, um später – auch durch persönliche Inaugenscheinnahme, die Kopflupe auf der Stirn – festzustellen, ob sie identisch sind. Mit Erfolg: Nach zweijähriger Arbeit ist die Liste aller in der Klassik Stiftung gefundenen Möbel und Kunstgegenstände der Lemkes auf hunderte Objekte angewachsen. Ein Superlativ oder der bisher größte Restitutionsfall der Stiftung in Bezug auf zu DDR-Zeiten unrechtmäßig erworbene Kulturgüter. Nachdem die Stiftung die Rückgabe zahlreicher Objekte mit den Lemke-Nachfahren vereinbart hat, fährt Michael Lemke im Mai 2017 nach Weimar, um die Möbel und Kunstgegenstände in Empfang zu nehmen. Einen Tag lang dauert die Restitution, am Abend rollt ein riesiger Lastwagen vom Hof des Zentralen Museumsdepots in Weimar-Nord.

„Da sind Dinge passiert, die Unrecht waren, und wir haben die Verpflichtung, sie wiedergutzumachen“

„Beim Fall Lemke waren viele Dinge ungewöhnlich“, sagt Gert-Dieter Ulferts, der sich zwanzig Jahre lang mit Restitutionsfragen bei Adelsfamilien, mit NS-Raubgut und zuletzt mit DDR-Enteignungen beschäftigt hat. Es habe ihn überrascht, dass viel mehr Objekte in der Stiftung gefunden als zurückgefordert wurden. „Meistens ist es ja umgekehrt.“ Er zähle sich zu einer Generation, in der die Frage der Aufarbeitung der NS-Geschichte eine große Rolle spiele, sagt der 64-Jährige, und das gelte auch für die DDR-Zeit: „Da sind Dinge passiert, die Unrecht waren, und wir haben die Verpflichtung, sie wiedergutzumachen.“

Bei aller Freude über den zurückerhaltenen Familienbesitz wie über die barocke Kommode mit den Intarsienarbeiten – traurig stimmt Michael Lemke, dass seine Eltern und auch die Tante die Rückgabe des Familienbesitzes nicht mehr erlebt haben. Seine Mutter sei nach der Flucht aus Römhild „nie mehr glücklich geworden“, erzählt der pensionierte Lehrer, der heute mit seiner Frau in Bocholt lebt. Sicher hätte die Restitution Trost spenden können. Einmal, sagt Michael Lemke, habe seine Mutter über die Flucht in den Westen gesprochen und diesen einen bitteren Satz gesagt: „Michael, für euch war es das Beste, aber ich habe meine Heimat verloren.“

Als Juristin im Team Provenienzforschung ist Cora Chall u.a. für die Verhandlungen mit den Rechtsnachfolgern zuständig. Auch in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek bereitet sie sich darauf vor

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