Jenny und Fritz Fleischer bei einem Waldspaziergang, ca. 1920. © Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar.

Der Fall Jenny Fleischer

Hinweise auf NS-Raubgut finden die Provenienzforscher nicht nur in den Zugangsbüchern der einzelnen Einrichtungen, die heute Teil der Klassik Stiftung sind. Auch in den Archiven dieser Vorgängerinstitutionen entdecken sie mitunter Schriftstücke, die einen Verdacht auf unrechtmäßig erworbenes Kulturgut begründen.

Im Institutsarchiv der ehemaligen Staatlichen Kunstsammlungen zu Weimar, die seit 2003 zur Klassik Stiftung gehören, finden die Forscher den Durchschlag eines Schreibens vom 9. Juni 1947, das Objekte aus dem Nachlass »von Frau Professor Fleischer-Weimar« betrifft. Der Verfasser teilt der Thüringischen Treuhand-Gesellschaft mit, »dass die Staatlichen Kunstsammlungen im Jahr 1944 vom Finanzamt-Weimar Gegenstände erworben haben, die wahrscheinlich aus diesem Nachlass stammen«. Zwar fehlt eine Unterschrift, doch es weist alles auf den damaligen, seit 1927 bei den Kunstsammlungen tätigen und seit 1940 offiziell als Direktor amtierenden Kunsthistoriker Walther Scheidig hin.

Eintrag im Zugangsbuch der ehemaligen Staatlichen Kunstsammlungen zu Weimar. © Klassik Stiftung Weimar

Eintrag im Zugangsbuch der ehemaligen Staatlichen Kunstsammlungen zu Weimar. © Klassik Stiftung Weimar

Da das Erwerbungsjahr sowie die Nennung des Finanzamts als Lieferant einen Anfangsverdacht auf NS-Raubgut begründen, prüfen die Provenienzforscher, welche der im Schreiben genannten Objekte sich bis heute im Besitz der Klassik Stiftung befinden. Sie identifizieren unter anderem ein »Kästchen mit Strohmosaik«, das auch in einem Zugangsbuch der ehemaligen Kunstsammlungen verzeichnet ist.

Hinter der Angabe »Frau Professor Fleischer« verbirgt sich Jenny Fleischer, geborene Alt. Jenny Alt wurde 1863 in Pressburg (Bratislava) geboren. Nach dem Schulbesuch erhielt sie eine Ausbildung in klassischem Gesang. Im Jahr 1885 wurde sie für das Weimarer Hoftheater engagiert. Sechs Jahre später heiratete sie den Weimarer Maler Fritz (Friedrich Martin) Fleischer, der wie sie selbst jüdischer Herkunft war. Jenny Fleischer gab ihre Bühnenkarriere nach der Hochzeit auf. Das Paar, dessen Ehe kinderlos blieb, kaufte in der Belvederer Allee eine Villa, in der es fortan wohnte und die es mit wertvollen Möbeln und Kunstwerken einrichtete.

Das Kästchen mit Strohmosaik. Im Inneren weist es eine reiche Verzierung auf. © Klassik Stiftung Weimar

Das Kästchen mit Strohmosaik. Im Inneren weist es eine reiche Verzierung auf. © Klassik Stiftung Weimar

Um die Jahreswende 1937/38 starb Fritz Fleischer. Jenny Fleischer wurde Opfer der sich immer weiter verschärfenden antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes: Ihr Vermögen unterlag ab September 1939 einer »Sicherungsanordnung«, sodass sie darüber nicht mehr frei bestimmen konnte. Die NS-Finanzbehörden schränkten den monatlichen Betrag, über den Jenny Fleischer für ihren Unterhalt noch verfügen durfte, immer weiter ein. Von diesem schmalen Unterhalt musste sie sich selbst, ihre Schwester Ilka Gál sowie deren Tochter Edith Gál, die beide bei ihr wohnten, versorgen.

Ab 1940 wurde ihr Haus zu einem »Judenhaus«: Die Gestapo wies weitere als Juden verfolgte Menschen in Jenny Fleischers Haus ein, um sie dort zu ghettoisieren. Zwei Jahre später starb Jenny Fleischers Schwester nach einem Unfall. Vermutlich führten die Trauer, der steigende Druck der Verfolgung und die Angst vor der angekündigten Deportation zu Jenny Fleischers endgültigem Entschluss: Gemeinsam mit ihrer Nichte Edith Gál beging sie am 7. April 1942 Selbstmord.

In ihrem Testament hatte sie ihren Neffen, Dr. Eduard Wolff, zum alleinigen Erben bestimmt. Da er den NS-Behörden als »jüdischer Mischling« galt, wurde ihm das Erbe vorenthalten.

Die Villa in der Belvederer Allee wurde samt Grundstück 1943 der Stadt Weimar übereignet. Der bewegliche Hausrat und die Kunstwerke aus dem Besitz Jenny Fleischers wurden durch das Weimarer Finanzamt ein Jahr später versteigert. Wie weitere Aktenfunde belegen, war der damalige Direktor der Weimarer Kunstsammlungen Walther Scheidig in die Verwertung des Nachlasses involviert. Er wurde angefragt, ob sich unter den Gegenständen solche von musealem Interesse befänden. Walther Scheidig nutzte diese Gelegenheit und erwarb für die Kunstsammlungen mehrere Objekte, darunter das Kästchen mit Strohmosaik.

Darüber hinaus belegen die Eintragungen in den Inventaren der Kunstsammlungen, dass der Wortlaut des eingangs zitierten Schreibens von 1947 nicht dem  Kenntnisstand Walther Scheidigs entsprach: Er wusste, dass die Gegenstände nicht nur, wie es dort heißt, »wahrscheinlich«, sondern tatsächlich aus dem Nachlass Jenny Fleischers stammten.

Da es sich bei diesen Objekten eindeutig um NS-Raubgut handelt, hat die Klassik Stiftung Weimar intensiv nach den Erben Jenny Fleischers gesucht, bislang leider erfolglos.

Jenny und Fritz Fleischer bei einem Waldspaziergang, ca. 1920. © Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar.

Jenny und Fritz Fleischer bei einem Waldspaziergang, ca. 1920. © Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar.

Die Mobile Vitrine mit dem Fall Jenny Fleischer ist bis Ende Juli 2017 im Foyer des Stadtschlosses zu sehen.

Zur Reihe »NS-Raubgut in der Klassik Stiftung Weimar«

In den Beständen der Klassik Stiftung Weimar befinden sich unrechtmäßig erworbene Kulturgüter. Seit 2010 sucht die Stiftung systematisch nach sogenanntem NS-Raubgut und strebt gemeinsam mit den Verfolgten oder deren Erben gerechte und faire Lösungen an. 2011 hat die Stiftung diese Aufgabe in ihr Leitbild aufgenommen.

In mehreren Fällen konnten als »NS-Raubgut« identifizierte Objekte an die Erben der einstigen Besitzer zurückgegeben werden. Seit November 2015 ist die Mobile Vitrine auf Wanderschaft durch die Foyers der Häuser und stellt besonders interessante Einzelfälle von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern und die Verfolgungsschicksale der früheren Eigentümer vor.

Zu jedem Fall wird ein Blogbeitrag veröffentlicht.

Romy Langeheine

Romy Langeheine studierte Jüdische Geschichte und Linguistik an der Universität Erfurt, der FU Berlin und an der University of Sussex. Ihre Promotion über den Nationalismusforscher Hans Kohn erschien 2013 im Göttinger Wallstein Verlag. Romy Langeheine arbeitet als selbstständige Kuratorin und Lektorin in Jena.

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Mehr zum Thema Provenienzforschung:

Der Fall Prof. Dr. Ernst Polaczek: NS-Raubgut in der Klassik Stiftung, Teil 6

Der Fall Dr. Susanne Türck: NS-Raubgut in der Klassik Stiftung, Teil 4

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Die Biografie hinter dem Objekt: Auf der Suche nach NS-Raubgut

Glossar Provenienzforschung