Erben in Brasilien gefunden: Der Fall Ernst Polaczek
von Romy Langeheine und Cora Chall
Nach langjähriger Suche hat die Klassik Stiftung Weimar die rechtmäßigen Erben eines von Adele Schopenhauer entworfenen „Rätselalphabets“ gefunden und die Drucke restituiert.
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In „Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen“ wurde 1820 ein Rätselalphabet in 13 Bildern nach Scherenschnitten von Adele Schopenhauer (1797–1849) abgedruckt. Die Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer war als Schriftstellerin tätig, jedoch auch als eine Meisterin des Scherenschnitts bekannt. Ihre Mutter Johanna Schopenhauer unterhielt in Weimar einen literarischen Salon, in dem Johann Wolfgang von Goethe regelmäßig zu Gast war. Wohl aufgrund dieser Verbindung zwischen dem Dichter und der Familie Schopenhauer erwarb das Goethe-Nationalmuseum im März 1936 Drucke des Rätselalphabets. Im Zugangsbuch des Museums ist neben dem Erwerbungsdatum und dem Ankaufpreis von 40 Reichsmark auch der Einlieferer genannt: Prof. Dr. Ernst Polaczek.
Die Klassik Stiftung Weimar überprüft ihre Bestände seit 2010 systematisch, das heißt chronologisch und bestandsübergreifend, auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Da das Erwerbungsjahr 1936 einen Anfangsverdacht auf eine Erwerbung von NS-Raubgut begründet, wurden auch die Erwerbungsumstände des Silhouettenalphabets untersucht. Dabei ging es zunächst vor allem um eine Frage: Wer war Prof. Dr. Ernst Polaczek?
Ernst Polaczek wurde 1870 in Reichenberg (heute Liberec/Tschechien) geboren und studierte ab 1893 in Straßburg Kunstgeschichte. Es folgte eine universitäre Laufbahn: Nach dem Abschluss der Promotion blieb er als Assistent an der Universität Straßburg, wo er sich 1899 habilitierte. Acht Jahre später übernahm Ernst Polaczek zudem die Leitung des Städtischen Kunstgewerbemuseums in Straßburg. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde er zum Honorarprofessor der Universität Straßburg sowie zum Direktor des Straßburger Museums der schönen Künste ernannt. Nach Kriegsende wurde Ernst Polaczek wie alle reichsdeutschen Beamten aus dem nun wieder französischen Elsass ausgewiesen. Er lebte fortan mit seiner Ehefrau Friederike Polaczek in München, bis ihm 1928 die Stelle des Direktors der Oberlausitzer Gedenkhalle und des dazugehörenden Kaiser-Friedrich-Museums in Görlitz angeboten wurde. Fünf Jahre konnte er dort wirken, bis er 1933 aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten Berufsverbot erhielt: Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Ernst und Friederike Polaczek zogen daraufhin nach Freiburg im Breisgau. Sehr wahrscheinlich musste Ernst Polaczek in dieser Zeit Teile seiner privaten Kunstsammlung verkaufen, um den Lebensunterhalt für sich und seine Frau bestreiten zu können. Aus seiner Korrespondenz mit dem Freiburger Finanzamt wird zudem ersichtlich, dass er die Emigration aus Deutschland plante: Er verpfändete Wertpapiere, um die sogenannte Reichsfluchtsteuer zahlen zu können.
Im Januar 1939 starb Ernst Polaczek in Freiburg. Seine Witwe war Alleinerbin der Kunstsammlung, zu der unter anderem herausragende Keramiken, sogenannte Fayencen, gehörten. Verschiedene Museen drängten Friederike Polaczek zum Verkauf ihrer wertvollen Keramiksammlung, dem sie schließlich zustimmte. Wie fast alle Juden, die in Baden lebten, wurde auch Friederike Polaczek im Oktober 1940 nach Frankreich deportiert und von den französischen Behörden anschließend im Lager Gurs interniert. Es gelang ihr, aus dem Lager zu entkommen und sich bis 1942 in Grenoble zu verstecken. Hier wurde sie bei einer Razzia entdeckt, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Die Klassik Stiftung bewertet die Druckgrafiken als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, da davon auszugehen ist, dass die Verfolgung durch die Nationalsozialisten zum Verkauf der Objekte geführt hat. Den 1998 zwischen 44 Staaten vereinbarten Washingtoner Prinzipien entsprechend, werden in diesen Fällen zusammen mit den Rechtsnachfolgern der früheren Eigentümer gerechte und faire Lösungen gesucht.
Die Eheleute Polaczek hatten keine Kinder. Die Recherchen ergaben, dass zwei Cousins Friederike Polaczeks als Erben eingesetzt worden waren, die während des Holocausts nach Südamerika fliehen konnten. Nach mehrjähriger Suche konnten die Nachfahren dieser Cousins in Brasilien ausfindig gemacht werden. Die Klassik Stiftung einigte sich mit ihnen darauf, die Drucke des Silhouetten-Alphabets zurückzugeben. Seit Februar 2021 befinden sich diese nun bei den rechtmäßigen Eigentümern in Brasilien.
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