Die spätere Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Natalie von Milde in jungen Jahren. Foto: Klassik Stiftung Weimar

Natalie von Milde – Weimars vergessene Feministin

Man muss zuerst sich selbst gehören – für diese Überzeugung kämpfte Natalie von Milde ein Leben lang. In Weimar und international setzte sich die Schriftstellerin um 1880 für die Rechte von Frauen ein. Teile ihres Nachlasses werden heute im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt.

Von Jonah Martensen

„ … dass jedes Geschöpf in erster Linie einen Selbstzweck hat, dass jede Frau, so gewiss sie ein Mensch ist, einem eigenem Gesetze gehorchen und erst sich selbst gehören muss, erst selbst etwas sein muss, bevor sie einem anderen gehören und ihm etwas sein kann …“

In ihrer Schrift “Goethe und Schiller und die Frauenfrage” beschrieb Natalie von Milde diesen Gedanken bereits 1896. Bis heute hat er nichts von seiner Aktualität verloren. Im Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts allerdings sind diese Worte für viele Menschen jedoch vor allem eins: revolutionär. Denn zu dieser Zeit wird „die Frau noch immer als eine Unmündige, Handlungsunfähige vor das Gesetz gestellt“.

Doch die Forderung nach Gleichberechtigung wird lauter: Mehr und mehr mutige Frauenrechtlerinnen kämpfen um die Jahrhundertwende für Selbstbestimmung und Bildungsfreiheit. Eine von ihnen ist die Weimarerin Natalie von Milde. Für sie ist vor allem der Zugang zu Bildung das weithin potenteste Mittel im Kampf für Gleichberechtigung. „Die Bildung der Frau lückenhaft, unzulänglich zu machen, ist Prinzip“, betont sie in ihrer Schrift “Goethe und Schiller und die Frauenfrage”.
Wer war diese Frau, die zu den bekanntesten Frauenrechtlerinnen Weimars gehörte und welche Bedeutung kommt ihrem Denken heute zu?

 Natalie von Milde war sich durchaus bewusst, dass ihre Position die einer privilegierten Frau des Bildungsbürgertums war. Foto: Klassik Stiftung Weimar

Natalie von Milde war sich durchaus bewusst, dass ihre Position die einer privilegierten Frau des Bildungsbürgertums war. Foto: Klassik Stiftung Weimar

Geboren am 31. März 1850 in München als Tochter einer Opernsängerin übersiedelte Natalie von Milde im Alter von acht Jahren nach Weimar, um dort von Johann und Rosa von Milde großgezogen zu werden. Weshalb ihre Eltern sie fortgaben, ist nicht bekannt. Die Pflegeeltern ermöglichten ihr eine musikalische Erziehung, Natalie von Milde verfehlte die angestrebte Laufbahn als Sängerin aufgrund einer schweren Diphterie-Erkrankung. Später gab sie selbst Gesangsunterricht und versuchte sich 1879 an ersten literarischen Werken. Der Jenaer Professor Karl Volkmar Stoy erteilte ihr privaten Psychologieunterricht. 1888 trat sie dem Frauenrechtsverein „Reform“ bei, 1900 wurde sie Vorsitzende des weimarischen Vereins „Frauenbildung-Frauenstudium”.

Bildung als ganzheitliches Konzept

Bildung ist für Natalie von Milde ein ganzheitliches Konzept, das sich an Friedrich Schillers ästhetischer Erziehung orientiert. Zu Beginn ihres Buches „Goethe und Schiller und die Frauenfrage“ schreibt sie:

„Der Drang des Menschen, seine Ideale, sei es auch nur im kleinsten Massstabe, zu verwirklichen, ist das eigentliche Leben, denn die Aufgabe der Menschheit geht dahin, die Ideale wahr, schön und gut immer heimischer auf der Erde zu machen […] Nur in dem Masse, als er seine Kräfte für ein Ideal einsetzt, verdient er den Namen Mensch im vollen Sinne des Worts.“

Erziehung als menschheitliche Grundaufgabe

Milde zufolge ist die ganzheitliche Erziehung von Kindern eine menschheitliche Grundaufgabe. Die Frauen ihrer Zeit seien für diese gesamtgesellschaftlich zu verstehende Mutterrolle aber ungeeignet, denn „Kindererziehen erheischt Menschen, welche den Werth des Lebens erkannt und sich selbst in ein fruchtbares Verhältnis zum Leben gesetzt haben“. Die Frau des 19. Jahrhunderts aber hat im Milde’schen Sinne gar nicht die Möglichkeit, sich frei zum Leben in Beziehung zu setzen. Denn die Welt der Frau bleibe beschränkt auf die eigenen vier Wände: „Der Mann allein stürmt hinaus ins feindliche Leben“, während der Frau Freiheit als „verbotene Frucht“ erscheine. Die große Geißel des weiblichen Lebens besteht laut Milde somit aus „der Theorie, die Familie sei die Welt der Frau“.

In diesem Brief an Marie von Ebner-Eschenbach schildert Milde erste Entwürfe ihres Buches „Goethe und Schiller und die Frauenfrage“. Sie schreibt: „Was ich arbeite? An einem furchtbar schweren Aufsatz, in dem ich zeigen möchte, wie viel Schaden angerichtet wird durch die geflissentliche Spaltung der Menschenkraft Geist und Liebe in zwei Hälften. Diesen möchte ich als Vorwort benutzen zu einem Heftchen, in dem auch der Schiller- u. Goetheaufsatz Platz fände u. die Kennzeichnung einiger anderer Dichter und den Einfluß auf die Frau.“ Foto: Klassik Stiftung Weimar

In diesem Brief an Marie von Ebner-Eschenbach schildert Milde erste Entwürfe ihres Buches „Goethe und Schiller und die Frauenfrage“. Sie schreibt: „Was ich arbeite? An einem furchtbar schweren Aufsatz, in dem ich zeigen möchte, wie viel Schaden angerichtet wird durch die geflissentliche Spaltung der Menschenkraft Geist und Liebe in zwei Hälften. Diesen möchte ich als Vorwort benutzen zu einem Heftchen, in dem auch der Schiller- u. Goetheaufsatz Platz fände u. die Kennzeichnung einiger anderer Dichter und den Einfluß auf die Frau.“ Foto: Klassik Stiftung Weimar

In Anlehnung an den Selbstzweck-Gedanken des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant fordert Natalie von Milde, dass Frauen und Männer gleichermaßen einen Selbstzweck erhalten:

„Jedes kleinste Geschöpf in der grossen Natur hat einen Selbstzweck; und die ganze grosse Hälfte der mit Geist und Willen begabten Menschheit hätte keinen eigensten Zweck?“

Der weibliche Zweck jedoch sei bisher unterjocht worden, indem der Mann als der stärkere Part der Frau die Funktion zugewiesen habe, ihm zu gefallen und seinen eigenen Zwecken zu dienen. Daher plädiert sie dafür, die Frau aus der Familie heraustreten zu lassen. Sie spricht von einer „specifisch weibliche[n] Mission“, als Gleichberechtigte neben dem Mann, die Welt zu erleben und zu gestalten. Sie betont jedoch: „Es handelt sich um eine Menschheits-, nicht um eine Frauenfrage.“ Damit meint sie, dass die Umsetzung ihres Anliegens nur gelingen kann, wenn auch Männer zu ihren Unterstützern zählen. Deren konkrete Rolle lässt sie allerdings offen.

Inspiriert von Goethe, Schiller und Kant

Ist Mildes pädagogischer Feminismus eindeutig von Schillers humanistischen Idealen geprägt, inspiriert Goethe sie an anderer Stelle. Sie nennt ihn nicht nur „unser[en] größte[n] Dichter“, sondern lobt in ihren Texten wiederholt, wie facettenreich die weiblichen Figuren in seinen Werken seien, beispielsweise die selbstbestimmte Protagonistin aus „Iphigenie auf Tauris“.

Schriftstellerinnen ihrer Zeit 

Schriftstellerinnen ihrer Zeit beurteilte Milde unterschiedlich. Frieda von Bülow und Laura Marholm stand sie beispielsweise kritisch gegenüber. Diese Autorinnen vertraten in Mildes Augen die Frauenfrage nicht vehement genug. Im Gegenteil – sie schadeten ihr sogar mit Frauenfiguren, die sich ganz in ihre tradierten Rollen fügten.
Die Werke von Helene Böhlau dagegen gefielen Natalie von Milde. Ihre glühende literarische Ikone war jedoch die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach. Neben der intellektuellen Verehrung verband Milde offenbar auch eine Freundschaft mit der zwanzig Jahre älteren Adeligen. Milde widmete ihr nicht nur das Buch “Frauenfrage und Männerbedenken”, sondern unterhielt mit ihr einen innigen Briefwechsel, der heute im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt wird.

Einer grundlegenden methodischen Problematik ist sich Milde durchaus bewusst: „In der Frauenfrage etwas Neues zu sagen, scheint schwer wenn nicht unmöglich.“ Mit diesem selbstkritischen Bekenntnis eröffnet sie ihr Buch „Goethe und Schiller und die Frauenfrage“. Milde gesteht damit ein, dass sich die Frauenbewegung zu dieser Zeit auf aufklärerische Arbeit beschränken muss. Vor einer inhaltlichen Weiterentwicklung müssten erst grundlegende Gleichheitsrechte gegeben sein. Der gesellschaftliche Status Quo sei Unwissen und nicht Absicht oder Bösartigkeit zuzuschreiben: „Bei dem Guten ist die einzige Ursache seiner Parteinahme gegen uns Unkenntnis, nichts Schlimmeres.“

Raus aus der Familie, rein in die Welt

Inspiriert von Kant, Schiller und Goethe, wagte Milde es, außerhalb tradierter Grenzen zu denken und zu sein. Sie kritisierte nicht nur die Haltung der Männer und die patriarchalische Gesellschaft als solche, sondern unterbreitete eigene Vorschläge zur Verbesserung der Zustände. „Ganz Mutter muß das Weib werden.“ – Für Milde heißt Mutter-Sein aber nicht nur Kinder zu erziehen, sondern auch die Gesellschaft: Die Frau müsse aus der Familie hinaus, hinein in die Welt können.
Recht auf Arbeit, Gleichstellung vor dem Gesetz, Bildung und Wahlrecht – die Agenda von Natalie von Milde erscheint uns heute selbstverständlich. Zumindest in der sogenannten westlichen Welt entspricht sie der Realität.
Zu ihrer Zeit war Natalie von Milde Teil einer revolutionären Strömung aufbegehrender Frauenrechtlerinnen, denen von allen Seiten – auch von anderen Frauen – Widerstand entgegenschlug. Milde prägte den feministischen Kampf auch durch ihre Präsenz auf vielen internationalen Kongressen und blieb bis zu ihrem Tod am 29. März 1906 aktiv in der Weimarer Kulturszene. So gründete sie beispielweise noch 1902 ein Lesezimmer für Frauen, das Bildung für beide Geschlechter fördern sollte.

In einem Nachruf auf Natalie von Milde schrieb Eleonora von Bojanowski:

„Als eine Säende, die eine goldene Saat ausstreut, ist sie durchs Leben geschritten.“

Vergessen wir nicht, diese Saat auch weiterhin zu hegen.

 

Der Verfasser des Beitrages Jonah Martensen absolviert derzeit sein Freiwilliges Soziales Jahr in der Kultur im Stabsreferat Forschung | Kolleg Friedrich Nietzsche.

Auch interessant: 

Das Gartenbuch der Fürstin Izabela Czartoryska

Allwina Frommann – eine selbstbewusste Künstlerin des 19. Jahrhunderts

“Gropius’ Einladung an die Frauen war erst mal ernst gemeint”

Alle News monatlich kompakt in unserem Newsletter!

Die Kulturapp Weimar+